Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien
Geschäftsmann zu Mittag gegessen, bei Belloir in Reims einen Kognak getrunken und Jef Lombard erst am Vormittag einen Besuch abgestattet …
»Guten Abend, Messieurs!«
Er begrüßte jeden einzelnen mit dem ihm eigenen kräftigen Händedruck, der unter gewissen Umständen etwas von einer Drohung an sich haben konnte.
»Welch ein Zufall, Sie hier wiederzusehen!«
Auf der Wandbank neben van Damme war noch ein Platz frei. Er ließ sich dort nieder und sagte, zu dem Kellner gewandt:
»Ein großes Helles!«
Danach herrschte Schweigen, ein undurchdringliches, gespanntes Schweigen. Van Damme starrte verbissen vor sich hin. Jef Lombard fuhr fort, auf seinem Stuhl hin- und herzurutschen, so als fühle er sich nicht recht wohl in seiner Haut. Belloir, steif und frostig, betrachtete seine Fingernägel, entfernte mit der Spitze eines Streichholzes ein winziges Fleckchen unter dem Nagel des Zeigefingers.
»Wie geht es Ihrer Frau, Monsieur Lombard?«
Jefs Blick irrte nach einem Halt suchend durch den Raum, heftete sich an den Ofen, während er stammelte:
»Sehr gut, danke …«
Über dem Schanktisch hing eine Uhr, und Maigret zählte fünf volle Minuten, in denen kein weiteres Wort zwischen ihnen gesprochen wurde. Van Damme hatte seine Zigarre ausgehen lassen. Sein Gesicht war das einzige, aus dem unverhohlener Haß sprach.
Jef bot den interessantesten Anblick. Zweifellos hatten die Ereignisse dieses Tages dazu beigetragen, seine Nerven aufs Äußerste anzuspannen, denn jeder noch so winzige Muskel seines Gesichts zuckte unkontrollierbar.
Der Tisch, an dem die vier Männer saßen, war eine regelrechte Oase des Schweigens inmitten dieses Lokals, wo alles laut durcheinander redete.
»Und Rebelote !« kam es triumphierend von einem der Kartenspieler rechts von ihnen.
»Tierce haute!« folgte zögernd das Echo von der anderen Seite. »In Ordnung?«
»Drei Bier! Drei!« brüllte der Kellner.
Überall war Leben, war Bewegung, bis auf den Tisch mit den vier Männern, um den sich allmählich eine unsichtbare Mauer zu bilden schien.
Jef war es, der den Bann brach. Er biß sich auf die Unterlippe, sprang plötzlich auf und stieß hervor:
»Dann eben nicht!«
Ein durchdringender, gepeinigter Blick streifte die Freunde, dann griff er nach Mantel und Hut, stürzte zur Tür und stieß sie heftig auf.
»Ich wette, er bricht in Tränen aus, sobald er draußen ist!« bemerkte Maigret versonnen.
Er nämlich hatte die Wut und Verzweiflung des Fotograveurs gespürt, den Schluchzer, der seine Brust zu sprengen drohte, seinen Adamsapfel beben ließ.
Er wandte sich zu van Damme herum, der die marmorne Tischplatte betrachtete, leerte sein Glas bis zur Hälfte und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen.
Die Atmosphäre war die gleiche, wenn auch zehnmal so geladen, wie in Belloirs Haus in Reims, wo Maigret dieselben Männer durch seine Gegenwart in Verlegenheit gebracht hatte; und die imposanten Körpermassen des Kommissars trugen noch dazu bei, dieser den anderen aufgezwungenen Anwesenheit einen bedrohlichen Charakter zu verleihen.
Er war groß und breit gebaut, breit gebaut vor allem, klobig und robust, wobei das Ungeschlachte seines Körperbaus noch durch eine aller Raffinesse entbehrende Kleidung hervorgehoben wurde. Seine Züge waren grob, die Augen vermochten mühelos einen Ausdruck tierischen Stumpfsinns anzunehmen.
So ähnelte er den zuweilen in kindlichen Alpträumen auftretenden Gestalten, deren schauerlich geblähte, ausdruckslose Gesichter sich über den Schlafenden herabsenken, als wollten sie ihn zermalmen.
Von seiner gesamten Erscheinung ging etwas Unerbittliches, Unmenschliches aus, das an einen Dickhäuter denken ließ, der auf ein Ziel zustampft und sich von keiner Macht der Welt mehr davon abbringen läßt.
Er trank sein Bier, rauchte seine Pfeife und beobachtete mit Genugtuung den Zeiger der Uhr, der ruckartig, mit einem metallischen Klicken, von Minute zu Minute sprang. Eine nichtssagende Uhr.
Es hatte den Anschein, als sei seine Umgebung ihm völlig gleichgültig, und doch entging ihm keine noch so winzige Bewegung zur Rechten oder zur Linken.
Es war eine der merkwürdigsten Stunden seines Lebens, denn solcherart verging fast eine Stunde! Genau zweiundfünfzig Minuten dauerte dieser Nervenkrieg!
Jef Lombard war gleich zu Anfang schon außer Gefecht gesetzt worden; die beiden anderen jedoch hielten durch.
Und er saß da, zwischen ihnen, wie ein Richter. Ein Richter, der nicht anklagt, dessen
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