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Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Titel: Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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war der Totenkopf abgebildet, der jetzt am Fußende der Matratze lag. Maigret erinnerte sich, den unheimlichen Schädel schon auf einem von Jef Lombards Bildern gesehen zu haben.
    Unklar noch begann sich eine Verbindung zwischen den verschiedenen Akteuren und Ereignissen, über Zeit und Ort hinweg, abzuzeichnen. Mit schon nicht mehr ganz so ruhiger Hand glättete der Kommissar eine Kohlezeichnung, die einen langhaarigen jungen Mann mit weit offenstehendem Hemdkragen und einem Kinn, an dem der Bart eben zu sprießen begann, zeigte.
    Auch er nahm eine romantische Pose ein; sein Gesicht – im Halbprofil dargestellt – schien in die Zukunft zu blicken, so wie ein Adler in die Sonne schaut.
    Es war Jean Lecocq d’Arneville, der Selbstmörder aus dem schäbigen Hotel in Bremen, der Landstreicher, der seine Wurstbrötchen nicht gegessen hatte.
    »Zweihunderttausend Francs!«
    Dabei beeilte er sich hinzuzufügen – Geschäftsmann, der er war, und gewohnt, solch winzigen Kleinigkeiten wie den Schwankungen der Wechselkurse Beachtung zu schenken:
    »Französische Francs! … Hören Sie, Herr Kommissar …«
    Maigret ahnte sehr wohl, daß dem Flehen die Drohung folgen würde, daß der Schreck, der van Dammes Stimme jetzt noch erzittern ließ, sehr bald in einen Wutausbruch umschlagen würde.
    »Noch ist es möglich … Noch ist kein Verfahren eingeleitet worden … Wir sind in Belgien …«
    In der Laterne steckte noch ein Kerzenstummel, und unter dem Haufen Papier am Boden stöberte der Kommissar einen alten Petroleumkocher auf.
    »Sie sind nicht dienstlich hier … Und selbst wenn … Geben Sie mir bloß einen Monat!«
    »Also ist es im Dezember passiert …«
    Es sah aus, als presse van Damme sich noch dichter an die Wand, als er zögernd fragte:
    »Was meinen Sie?«
    »Jetzt ist es November. Im Februar werden genau zehn Jahre vergangen sein, seit Klein sich erhängt hat. Sie aber bitten nur um einen Monat …«
    »Ich verstehe nicht, was …«
    »O doch!«
    Es war nervenaufreibend, Maigret unablässig mit der Linken in den vergilbten Blättern wühlen zu sehen und das Knistern dieser Blätter mitanzuhören, wenn er sie zusammenknüllte, während seine Rechte in der Manteltasche verborgen blieb.
    »Sie haben sehr wohl verstanden, van Damme! Wenn es um den Tod Kleins ginge, angenommen, er wäre ermordet worden, so würde die Tat erst im Februar, nämlich zehn Jahre später, verjähren. Sie aber wollen nur einen Monat. Folglich hat es sich im Dezember abgespielt …«
    »Sie werden nichts herausfinden!«
    Und das mit einer Stimme, die wie ein schlecht aufgezogenes Grammophon klang.
    »Warum haben Sie dann Angst?«
    Mit diesen Worten hob Maigret die Matratze auf, unter der nichts außer Staub und einer verschimmelten, grünlichen, kaum noch erkennbaren Brotkruste lag.
    »Zweihunderttausend Francs … Wir könnten uns dahingehend einigen, daß Sie später …«
    »Soll ich Ihnen eins in die Schnauze hauen?«
    Das kam so überraschend, klang so grob, daß van Damme einen Moment lang die Fassung verlor, eine Bewegung machte, wie um sich zu schützen. Dabei zog er unabsichtlich den Revolver hervor, den seine Hand in der Tasche umklammert hatte.
    Er bemerkte es, wurde sekundenlang von einem Schwindel ergriffen und zögerte, unentschlossen, ob er schießen solle oder nicht.
    »Runter damit!«
    Seine Hand öffnete sich. Der Revolver fiel zu Boden, landete neben einem Haufen Hobelspäne.
    Und Maigret wandte seinem Gegner den Rücken, stocherte weiter in dem entsetzlichen Durcheinander von Kuriositäten herum. Er förderte eine gelbliche Socke zutage, auch sie gesprenkelt vor Schimmel.
    »Sagen Sie mal, van Damme …«
    Ein Instinkt ließ ihn herumfahren, weil die Stille etwas zuvor nicht Dagewesenes zu enthalten schien. Er sah, wie van Damme sich mit der Hand übers Gesicht fuhr, sah die von den Fingern hinterlassene feuchte Spur.
    »Weinen Sie etwa?«
    »Ich?«
    Dies »Ich« wurde herausfordernd, spöttisch und voller Verzweiflung ausgestoßen.
    »Bei welcher Waffengattung haben Sie eigentlich gedient?«
    Der andere begriff den Sinn der Frage nicht, antwortete jedoch, bereit, sich an jeden Hoffnungsschimmer zu klammern:
    »Ich war in Beverloo, auf der Schule für Reserveoffiziere.«
    »Infanterie?«
    »Kavallerie.«
    »Das heißt, Sie waren damals zwischen eins fünfundsechzig und eins siebzig groß und wogen weniger als siebzig Kilo. Den Bauch haben Sie später angesetzt …«
    Maigret schob einen Stuhl beiseite, der ihm im Weg

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