Maigret und der geheimnisvolle Kapitän
Kriminalpolizei, lag dort verlassen bis zum Tagesanbruch am Ende des Hafendamms neben einem Poller.
Hatte er sich umgedreht, so hätte er das kleine hölzerne Vordach der Seemannskneipe sehen können, in der niemand mehr war.
11
Die Sandbank der Schwarzen Kühe
D
as Meer ging schnell zurück. Maigret hörte die Brandung erst noch am Ende der Molen, dann immer weiter weg am Strand.
Wie fast immer ließ mit der Ebbe auch der Wind nach. Die Regenböen peitschten weniger heftig, und als die tieferhängenden Wolken mit der Dämmerung fahler wurden, hatte sich der nächtliche Sturzregen in einen feinen, aber noch kälteren Regen verwandelt.
Nach und nach tauchten die Dinge aus der Schwärze, die sie verschluckt hatte. Schemenhaft erkannte man die schiefen Masten der Fischkutter, die bei Niedrigwasser im Schlick des Vorhafens aufsaßen.
Von landeinwärts klang aus weiter Ferne das Brüllen einer Kuh. Die Kirchenglocke läutete diskret, mit kurzen, bescheidenen Schlägen zur Frühmesse um sieben Uhr.
Aber es galt noch zu warten. Die Gläubigen brauchten nicht durch den Hafen zu gehen. Und die Schleusenarbeiter hatten hier, ehe die Flut kam, nichts zu tun. Nur ein Fischer konnte zufällig vorbeikommen. Aber würden die Fischer bei diesem Wetter überhaupt aufstehen?
Maigret, der nur noch ein nasses Häuflein war, sah alle Betten von Ouistreham vor sich, solide Holzbetten, auf denen sich dicke Daunendecken türmten, unter denen sich die Leute zu dieser Stunde wohlig räkelten, argwöhnisch auf das fahle Rechteck der Fenster blickten und sich noch eine kleine Frist gönnten, ehe sie ihre nackten Füße auf den Fußboden stellten.
Lag Inspektor Lucas auch in seinem Bett? Nein! Denn in diesem Fall wären die Ereignisse kaum zu erklären gewesen!
Der Kommissar rekonstruierte sie so: Jean Martineau war es auf irgendeine Weise gelungen, dem Inspektor zu entwischen. Warum nicht, indem er ihn fesselte, so wie es Maigret passiert war? Dann war er zur ›Saint-Michel‹ gekommen, hatte dort die Stimme des Kommissars gehört. Geduldig hatte er gewartet, bis jemand rauskam. Und als Grand-Louis seinen Kopf durch die Luke gesteckt hatte, hatte er ihm zugeflüstert oder von einem Zettel ablesen lassen, was zu tun war.
Der Rest war einfach. Ein Geräusch an Deck. Célestin wird hinaufgeschickt. Oben reden die beiden Männer miteinander, um Maigret herauszulocken.
Und als er auf halbem Wege ist, kümmert sich das obere Duo darum, Maigret am Schreien zu hindern, während das Duo unten ihm Beine und Arme fesselt.
Inzwischen mußte die ›Saint-Michel‹ schon weit über die Drei-Meilen-Zone hinaus sein. Wenn sie nicht einen anderen französischen Hafen anlief, was unwahrscheinlich war, dann hatte sie sich Maigrets Zugriff entzogen.
Reglos lag er da. Er hatte festgestellt, daß jede Bewegung, die er machte, nur dazu führte, noch mehr Wasser in seinen Mantel dringen zu lassen.
Das Ohr am Boden, vernahm er diverse Geräusche, die er eines nach dem anderen identifizierte. So auch das der Pumpe, die in Joris’ Garten stand.
Julie war aufgestanden! Sie holte sicher Wasser für ihre Morgenwäsche, trug sicher noch ihre Holzpantinen. Aber sie würde den Garten nicht verlassen. In ihrer Küche hatte sie Licht gemacht, denn es war noch nicht richtig hell.
Schritte. Ein Mann überquerte die Brücke, betrat den Hafendamm. Er schritt gemächlich voran. Oben am Kai warf er etwas, das wie ein Bündel Taue aussah, in ein Boot.
Ein Fischer? Maigret drehte sich mühsam um, sah ihn zwanzig Meter von sich entfernt, als er gerade die ins Wasser führende Eisenleiter besteigen wollte. Trotz des Knebels gelang es ihm, ein ziemlich schwaches Stöhnen von sich zu geben.
Der Fischer blickte sich um, entdeckte den schwarzen Haufen, sah ihn lange mißtrauisch an, dann, endlich, entschloß er sich, näherzutreten.
»Was machen Sie da?«
Vielleicht hatte er schon einmal gehört, wie man sich bei der Konfrontation mit einem Verbrechen verhalten mußte, denn er sagte vorsichtig:
»Ich sollte vielleicht besser die Polizei holen.«
Doch immerhin nahm er ihm den Knebel ab. Und der Kommissar redete auf den Mann ein, so daß dieser, wenn auch immer noch argwöhnisch, die Fesseln zu lösen begann, wobei er knurrend den Kerl verfluchte, der die Knoten so fest geschnürt hatte.
Die Kellnerin öffnete die Fensterläden der Kneipe. Das Meer war immer noch unruhig, obwohl der Wind nachgelassen hatte, aber es war nicht mehr das anhaltende Tosen der Nacht. Die
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