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Maigret und der geheimnisvolle Kapitän

Maigret und der geheimnisvolle Kapitän

Titel: Maigret und der geheimnisvolle Kapitän Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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ergriff es, kletterte wie ein Affe hinauf, schwang sich ein paarmal hin und her und sprang auf Deck. Wenige Minuten später ließ er eine Strickleiter herunter.
    »Jemand an Bord?«
    »Niemand!«
    Ein paar Kilometer die Küste hinauf sah man die Häuser von Dives, Fabrikschornsteine, dahinter ahnte man Cabourg, Houlgate und die Felsenspitze, die Deauville und Trouville verbarg.
    Maigret erklomm aus Pflichtgefühl die Leiter, aber auf dem schräg stehenden Deck fühlte er sich alles andere als wohl. Er verspürte mehr Angst, als er auf einem Schiff gehabt hätte, das sich mitten in einem Sturm befand.
    In der Kajüte lagen Glasscherben am Boden, die Schranktüren standen auf …
    Und der Hafenmeister wußte nicht, was er tun sollte! Er war ja nicht der Besitzer des Schiffes! Sollte er es wieder flottmachen, einen Schlepper aus Trouville herbestellen, die Verantwortung für die Aktion übernehmen?
    »Wenn es so liegenbleibt, übersteht es die nächste Flut nicht«, murmelte er.
    »Nun gut, tun Sie, was getan werden muß. Sie können später sagen, ich hätte …«
    Nie zuvor hatte eine so nervöse und bedrückende Atmosphäre geherrscht. Unwillkürlich blickten alle zu den verlassenen Dünen hinüber, als wäre man darauf gefaßt, dort die Leute der ›Saint-Michel‹ zu entdecken.
    Immer noch strömten Leute aus dem Dorf herbei. Als Maigret, der nach Ouistreham zurückging, den Hafen erreichte, kam Julie angelaufen.
    »Ist es wahr? Sie haben Schiffbruch erlitten?«
    »Nein. Sie sind aufgelaufen. Aber ein so kräftiger Kerl wie Ihr Bruder ist sicher mit heiler Haut davongekommen.«
    »Wo ist er?«
    Etwas stimmte nicht an der ganzen Geschichte. Es war verwirrend. Als Maigret vor dem Hôtel de l’Univers ankam, rief ihm der Wirt zu:
    »Ihre beiden Freunde haben sich noch nicht blicken lassen! Soll ich sie wecken?«
    »Nicht nötig!«
    Der Kommissar ging selbst hinauf in Lucas’ Zimmer. Der lag auf seinem Bett. Gefesselt! Und die Fesseln saßen fast ebenso stramm wie zuvor bei Maigret!
    »Ich werde Ihnen alles erklären …«
    »Unnötig. Komm …«
    »Gibt’s was Neues? Sie sind ja völlig durchnäßt! Sie sehen müde aus.«
    Er folgte Maigret zum Postamt, das ganz am Ende des Dorfes gegenüber der Kirche lag. Die Leute standen vor den Türen. Wer konnte, lief zum Strand hinunter.
    »Hast du dich nicht wehren können?«
    »Er fiel auf der Treppe über mich her, auf dem Weg in den ersten Stock. Er ging hinter mir. Plötzlich zog er mir die Beine weg und dann ging alles so schnell, daß ich einfach machtlos war. Haben Sie ihn gesehen?«
    Maigret erregte Aufsehen, denn er sah aus, als hätte er die ganze Nacht bis zum Hals im Wasser gelegen. Auf dem Postamt war er nicht fähig, selbst zu schreiben, denn das Papier wurde sofort naß.
    »Schreib du! Telegramme an alle Bürgermeisterämter und Gendarmerien der Gegend … Dives, Cabourg, Houlgate. Auch die Ortschaften im Süden: Luc-sur-Mer, Lion, Coutances … Sieh auf der Karte nach … Alle, auch die kleinsten Dörfer im Umkreis von zehn Kilometern …
    Vier Personenbeschreibungen: Grand-Louis, dann Martineau, Kapitän Lannec und der alte Matrose namens Célestin.
    Wenn die Telegramme raus sind, telefonierst du mit den nächstgelegenen Ortschaften, um noch mehr Zeit zu gewinnen.«
    Er ließ Lucas die Telegramme und Telefonate erledigen und ging in ein Bistro gegenüber der Post, wo er einen heißen Grog trank, während Kinder ihre Gesichter an die Fensterscheiben preßten, um ihn zu sehen.
    Ouistreham war erwacht, ein unruhiges, besorgtes Ouistreham, das hinaus aufs Meer blickte oder zum Strand strömte. Und Neuigkeiten wurden ausgetauscht, aufgebauscht, entstellt.
    Auf der Straße begegnete Maigret dem alten Fischer, der ihn im Morgengrauen befreit hatte.
    »Du hast doch nirgends erzählt, daß …«
    Und der Fischer gleichgültig:
    »Hab erzählt, daß ich Sie gefunden habe …«
    Der Kommissar drückte ihm zwanzig Francs in die Hand und ging ins Hotel, um sich umzuziehen. Es schüttelte ihn am ganzen Körper. Es überlief ihn heiß und kalt zugleich. Er hatte dicke Tränensäcke unter den Augen, Bartstoppeln bedeckten seine Wangen.
    Aber trotz seiner Müdigkeit arbeiteten seine Gedanken flink. Flinker sogar als sonst. Er wußte, was rund um ihn vorging, er konnte den Leuten antworten und sie befragen, wobei ihn stets sein klarer Verstand leitete.
    Es war kurz vor neun Uhr, als er sich wieder zum Postamt begab. Lucas führte gerade das letzte seiner Telefonate. Die

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