Maigret und der geheimnisvolle Kapitän
Telegramme waren schon abgeschickt. Auf seine Anfrage hatten die Gendarmerien geantwortet, daß sie noch nichts gesehen hätten.
»Hat Monsieur Grandmaison ein Gespräch geführt, Mademoiselle?«
»Vor einer Stunde. Mit Paris.«
Sie nannte ihm die Nummer. Er sah im Telefonbuch nach und stellte fest, daß es sich um die Stanislas-Schule handelte.
»Verlangt der Bürgermeister oft diese Nummer?«
»Ziemlich oft. Ich glaube, es ist das Internat, das sein Sohn besucht.«
»Ach ja, er hat einen Sohn. Um die fünfzehn Jahre, nicht wahr?«
»Ich glaube. Ich kenne ihn nicht.«
»Monsieur Grandmaison hat nicht mit Caen telefoniert?«
»Er ist aus Caen angerufen worden. Ein Familienmitglied oder einer seiner Angestellten, denn der Anruf kam aus seinem Haus.«
Der Fernschreiber tickte. Ein Telegramm für den Hafen:
Schlepper ›Athos‹ eintrifft Mittag auf Reede. Gezeichnet: Hafenamt Trouville.
Und endlich ein Anruf der Polizei Caen: Madame Grandmaison sei um vier Uhr morgens in Caen angekommen, habe zu Hause, Rue du Four, geschlafen und sei soeben mit dem Wagen nach Ouistreham gestartet.
Als Maigret vom Hafen zum Strand sah, hatte sich das Meer so weit zurückgezogen, daß das gestrandete Schiff fast ebensoweit vom Wasser wie von den Dünen entfernt war. Kapitän Delcourt war in schlechter Stimmung. Jedermann sah besorgt zum Horizont.
Denn da war keine Täuschung möglich. Zwar hatte der Wind mit der Ebbe nachgelassen, aber gegen Mittag, mit steigendem Wasser, würde kräftiger Sturm aufkommen. Man sah es an der Farbe des Himmels, ein drohendes Grau, und an dem tückischen Grün der Wellen.
»Hat niemand den Bürgermeister gesehen?«
»Er hat mir durch sein Dienstmädchen sagen lassen, daß er krank ist und mir die Leitung der Aktion überträgt.«
Mit müden Schritten, die Hände in den Taschen, machte sich Maigret auf den Weg zu der Villa. Er klingelte. Fast zehn Minuten vergingen, ehe man ihm öffnete.
Die Haushälterin wollte etwas sagen, aber er beachtete sie nicht und trat mit einer so grimmigen Miene in den Flur, daß sie betroffen schwieg und sich damit begnügte, zur Tür des Arbeitszimmers zu laufen.
»Es ist der Kommissar!« rief sie.
Maigret betrat den ihm allmählich vertrauten Raum, warf seinen Hut auf einen Stuhl, nickte dem Mann zu, der in seinem Sessel ausgestreckt lag.
Die Wunden vom Vortag sah man jetzt viel deutlicher, sie waren nicht mehr rot, sondern bläulich. Im Kamin brannte ein starkes Kohlefeuer.
Man sah Monsieur Grandmaison an, daß er vorhatte, nichts zu sagen und sogar seinen Besucher zu ignorieren.
Maigret verhielt sich ebenso. Er zog seinen Mantel aus, stellte sich mit dem Rücken vor den Kamin, wie jemand, der nichts anderes im Sinn hat, als sich aufzuwärmen. Das Feuer brannte ihm auf den Waden. Mit kurzen, nervösen Zügen rauchte er seine Pfeife.
»Die ganze Geschichte wird noch vor heute abend zu Ende sein!« sagte er schließlich wie zu sich selbst.
Der andere zwang sich, kühl zu bleiben. Er griff sogar nach einer Zeitung, die in Reichweite lag, und tat so, als lese er.
»Wir werden möglicherweise gezwungen sein, alle zusammen nach Caen zu fahren.«
»Nach Caen?«
Monsieur Grandmaison hatte aufgeblickt. Er runzelte die Brauen.
»Nach Caen, jawohl! Ich hätte es Ihnen früher sagen sollen; Madame Grandmaison wäre dadurch die Mühe erspart geblieben, herzukommen.«
»Ich sehe nicht ein, was meine Frau …«
»… mit diesem Dilemma zu tun hat?« vollendete Maigret. »Ich auch nicht!«
Und er holte sich Streichhölzer vom Schreibtisch, um seine Pfeife, die ausgegangen war, wieder anzuzünden.
»Ist übrigens auch nicht so wichtig«, fuhr er in leichterem Ton fort, »denn es wird sich ja bald alles aufklären. Apropos, wissen Sie, wer der jetzige Besitzer der ›Saint-Michel‹ ist, die man wieder flott zu kriegen versucht? … Grand-Louis! Aber er scheint mir eher der Strohmann eines gewissen Martineau zu sein, in dessen Namen er handelt.«
Es war eindeutig, daß der Bürgermeister versuchte, die geheimen Gedanken des Polizeibeamten zu erraten. Aber er vermied jedes Wort, vermied es vor allem, Fragen zu stellen.
»Sie werden den Zusammenhang gleich verstehen:
Grand-Louis kauft die ›Saint-Michel‹ auf Rechnung dieses Martineau fünf Tage vor dem Verschwinden von Kapitän Joris. Es ist das einzige Schiff, das den Hafen von Ouistreham sofort nach dessen Verschwinden verlassen hat. Es läuft England und Holland an, ehe es nach Frankreich
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