Maigret und der geheimnisvolle Kapitän
ihn, den Bürgermeister und die Staatsanwaltschaft in Caen zu benachrichtigen. Immer noch war unten ein Kommen und Gehen zu hören. Draußen, auf der sich im Nichts verlierenden Straße stand die Bevölkerung grüppchenweise herum und wartete. Einige hatten es sich bequem gemacht und ins Gras gesetzt.
Die Flut stieg, überspülte bereits die Sandbänke, die sich vor der Einfahrt des Hafens erstreckten. Am Horizont die Rauchfahne eines Schiffes, das darauf wartete, in die Schleuse einfahren zu können.
»Können Sie sich denken, wer …« begann der Arzt, verstummte aber, als er sah, daß Maigret beschäftigt war.
Zwischen den beiden Fenstern stand ein Sekretär aus Mahagoni, den der Kommissar geöffnet hatte. Und mit der eigensinnigen Miene, die er bei solchen Gelegenheiten gewöhnlich aufsetzte, machte er Bestandsaufnahme vom Inhalt der Schubladen. Wenn man ihn so sah, glaubte man ein Ungeheuer vor sich. Er hatte seine dicke Pfeife angezündet, die er in langen Zügen rauchte. Und seine kräftigen Finger wühlten ohne jeden erkennbaren Respekt in den Dingen, die sie fanden.
Zum Beispiel Fotos, von denen es Dutzende gab. Viele waren von Freunden, die fast alle Marineuniform trugen und etwa im selben Alter wie Joris waren. Man wußte nun, daß dieser mit seinen Kameraden aus der Schule von Brest in Kontakt geblieben war, die ihm von allen Enden der Welt schrieben. Es waren harmlose Aufnahmen im Postkartenformat und meistens recht kitschig, ob sie nun aus Saigon oder aus Santiago kamen.
Viele Grüße von Henry
oder:
Endlich! Der dritte Streifen! Gruß, Eugène.
Ein Großteil dieser Karten war an »Kapitän Joris an Bord der ›Diana‹, Compagnie Anglo-Normande, Caen«, adressiert.
»Kannten Sie den Kapitän schon lange?« fragte Maigret den Arzt.
»Einige Monate. Seit er im Hafen war. Vorher fuhr er auf einem der Schiffe des Bürgermeisters, das er achtundzwanzig Jahre lang befehligte.«
»Ein Schiff des Bürgermeisters?«
»Ja, Ernest Grandmaison! Direktor der Compagnie Anglo-Normande, sozusagen der alleinige Besitzer der elf Dampfschiffe der Gesellschaft.«
Noch ein Foto: Diesmal Joris selbst im Alter von fünfundzwanzig Jahren, schon damals von gedrungener Gestalt und mit einem breiten, lächelnden, wenn auch ein wenig verschlossenen Gesicht. Ein echter Bretone!
Und schließlich in einer Segeltuchtasche Diplome, vom Hochschulzeugnis bis zum Kapitänspatent der Handelsmarine, amtliche Papiere, ein Auszug aus der Geburtsurkunde, Militärbuch, Reisepaß …
Ein Umschlag fiel zu Boden, und Maigret nahm ihn auf. Das Papier war schon vergilbt.
»Ein Testament?« fragte der Arzt, der bis zum Eintreffen der Vertreter der Staatsanwaltschaft nichts weiter tun konnte.
Im Hause des Kapitäns Joris mußte Vertrauen geherrscht haben, denn der Umschlag war nicht einmal zugeklebt. Er enthielt einen Briefbogen, der mit einer so schönen Handschrift wie aus einer Schreibstube beschrieben war:
Ich, der Unterzeichnete, Yves-Antoine Joris, geboren in Paimpol, Seemann von Beruf, hinterlasse mein bewegliches und unbewegliches Vermögen Julie Legrand, meiner Haushälterin, als Dank für jahrelange Ergebenheit.
Sie hat dafür folgende Vermächtnisse auszusetzen: Mein Boot an Kapitän Delcourt; das chinesische Porzellanservice an dessen Frau; den geschnitzten Elfenbeinstock an …
Kaum einer von den Leuten, die zu der kleinen Welt des Hafens gehörten, deren reges Hin und Her Maigret im nächtlichen Nebel erlebt hatte, war vergessen worden. Selbst der Schleusenwart erhielt ein Fischernetz, das dreimaschige Netz, das unter dem Schuppen liegt , wie das Testament besagte.
In diesem Augenblick entstand ein ungewöhnlicher Lärm. Julie hatte einen Moment der Unachtsamkeit der Frauen, die ihr zur Stärkung einen Grog bereiteten, ausgenutzt und kam die Treppe heraufgestürzt. Sie öffnete die Zimmertür und blickte wild um sich, eilte auf das Bett zu, hielt dann in letzter Sekunde – vom Tod beeindruckt – bestürzt inne.
»Ist er …?«
Sie brach zusammen, sank auf den kleinen Teppich und schrie kaum verständliche Dinge, von denen man erriet:
»… nicht möglich … Mein armer Monsieur … mein … mein … «
Maigret, der müde und sehr ernst war, half ihr, sich aufzurichten und zog die sich Sträubende ins Nachbarzimmer, welches ihr Schlafzimmer war. Quer über dem Bett lagen Kleidungsstücke, und in der Waschschüssel stand Seifenwasser.
»Wer hat den Wasserkrug gefüllt, der auf dem Nachttisch
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