Maigret und der geheimnisvolle Kapitän
zerstreuten sich schließlich im Hafen, um die weiteren Geschehnisse abzuwarten.
Maigret stopfte seine Pfeife und ließ dann seinen Tabaksbeutel durch die Runde gehen. Kapitän Delcourt rauchte lieber eine Zigarette. Aber der Schleusenwart nahm eine Prise und steckte sie errötend in den Mund, wobei er stammelte:
»Sie erlauben?«
»Eine eigenartige Tragödie, nicht wahr?« wagte Maigret schließlich zu äußern.
Alle wußten, daß er mit diesen Worten recht hatte, dennoch herrschte verbissenes Schweigen.
»Kapitän Joris schien ein recht anständiger Mann gewesen zu sein.«
Und er wartete, beobachtete heimlich die Gesichter.
»Zu anständig«, erwiderte Delcourt, der ein bißchen älter war als sein Kollege, aber von weniger gepflegtem Äußeren, und den Alkohol schien er auch nicht zu verachten.
Indessen vergaß er nicht, während er sprach, durch die Gardinen hindurch sowohl den Wasserstand als auch das Schiff zu beobachten, das seinen Anker einholte.
»Er ist ein bißchen früh dran! Die Strömung der Orne wird ihn nachher auf die Sandbänke treiben …«
»Auf Ihr Wohl! Machen wir’s kurz: Niemand weiß, was in der Nacht des 16. September passierte?«
»Niemand. Es war eine Nebelnacht, ähnlich wie die gestrige. Ich selbst hatte keinen Dienst. Trotzdem bin ich bis neun Uhr hiergeblieben und habe mit Joris und den Freunden, die Sie hier sehen, Karten gespielt.«
»Trafen Sie sich jeden Abend?«
»Fast jeden. In Ouistreham kann man sonst kaum etwas unternehmen. An jenem Abend ließ Joris sich drei- oder viermal beim Spiel vertreten, um die Durchfahrt eines Schiffes zu überwachen. Um halb zehn war die Flut vorüber. Er hat sich im Nebel auf den Weg gemacht, als ginge er nach Hause.«
»Wann hat man sein Verschwinden bemerkt?«
»Am nächsten Tag. Julie kam her, um sich nach ihm zu erkundigen. Sie war schon vor der Rückkehr des Kapitäns eingeschlafen gewesen und wunderte sich am nächsten Morgen, ihn nicht in seinem Zimmer zu finden.«
»Hat Joris viel getrunken?«
»Nie mehr als ein Glas!« versicherte der Zöllner, der Lust bekam, sich an der Unterhaltung zu beteiligen. »Und keinen Tabak!«
»Sagen Sie mal … Er und Julie …?«
Die anderen sahen sich an, zögerten, grinsten.
»Man weiß es nicht. Joris schwor, es sei nichts … Allerdings …«
Wieder war es der Zöllner, der einwandte:
»Es ist nicht schlecht über ihn geredet, wenn man behauptet, daß er nicht ganz so war wie wir. Er war nicht hochmütig, nein, das ist nicht das richtige Wort. Aber er hielt auf sich, verstehen Sie? Nie wäre er in seinen Holzpantinen zur Arbeit gekommen, wie das bei Delcourt schon mal geschieht. Er spielte Karten, aber nur abends, und er kam nie tagsüber hierher. Er duzte die Schleusenarbeiter nicht. Ich weiß nicht, ob Sie verstehen, was ich sagen will.«
Maigret verstand es sehr gut. Er hatte ein paar Stunden in Joris’ Haus verbracht, einem schmucken, bürgerlichen, sehr ordentlichen Häuschen. Und nun sah er die Leute von der Kneipe vor sich, einfachere, lässigere Leute. Bestimmt wurde hier ein Schnaps um den anderen getrunken. Die Stimmen würden laut, die Luft stickig werden. Etwas Pöbelhaftes lag in all dem.
Joris kam lediglich her, um Karten zu spielen, über persönliche Dinge sprach er nicht, und er ging nach einem einzigen Glas.
»Sie ist seit ungefähr acht Jahren bei ihm. Sie war sechzehn, damals. Ein Mädchen vom Lande, unscheinbar und recht bieder.«
»Und jetzt?«
Die Bedienung kam unaufgefordert mit einer Flasche Schnaps und goß rundum einen kräftigen Schluck in die Gläser, in denen sich nur noch ein Rest von Kaffee befand. Auch das mußte so ein Brauch sein!
»Jetzt ist sie wie sie eben ist … Nun, auf dem Ball, zum Beispiel, da tanzt sie nicht mit jedem x-beliebigen … Und wenn man in den Kaufläden vertraulich mit ihr tut, so als wäre sie ein Dienstmädchen, dann wird sie ärgerlich … Schwer zu sagen. Trotzdem ist ihr Bruder …«
»Ihr Bruder?«
Der Schleusenwart blickte dem Zollbeamten fest in die Augen, und Maigret erhaschte den Blick.
»Der Kommissar wird es ja doch erfahren!« sagte der Mann, der ganz gewiß nicht mehr bei seinem ersten Kaffee mit Schuß saß. »Ihr Bruder saß acht Jahre im Knast. Eines Abends in Honfleur, da war er betrunken. Sie waren mehrere, lärmten in den Straßen … Die Polizei griff ein und der Bursche versetzte einem der Beamten einen so bösen Schlag, daß dieser im darauffolgenden Monat starb.«
»Ist er Seemann?«
»Er ist
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