Maigret und der geheimnisvolle Kapitän
weite Hochseerouten gefahren, bevor er nach Frankreich zurückkehrte. Jetzt arbeitet er auf einem Schoner aus Paimpol, der ›Saint-Michel‹.«
Kapitän Delcourt wurde zusehend nervös.
»Auf geht’s«, sagte er und erhob sich. »Es ist Zeit!«
»Laß erst mal den Dampfer in der Schleusenkammer sein«, seufzte der Zöllner, der es weniger eilig hatte.
Nun waren sie nur noch zu dritt. Maigret winkte der Bedienung, und sie kam mit ihrer Flasche zu ihnen.
»Kommt die ›Saint-Michel‹ gelegentlich hier vorbei?«
»Ja, gelegentlich«.
»Ist sie am 16. September hier gewesen?«
Der Zöllner besprach sich mit seinem Sitznachbarn:
»Er würde es doch erfahren, wenn er in die Schleusenbücher schaut … Ja, sie war hier. Sie haben sogar wegen des Nebels im Außenhafen übernachtet und sind erst in der Morgendämmerung weitergefahren.«
»In welche Richtung?«
»Southampton. Ich selbst habe die Papiere geprüft. Sie hatten in Caen Mühlsandstein geladen.«
»Und seither hat man Julies Bruder nicht mehr gesehen?«
Diesmal zögerte der Zollbeamte, er rümpfte die Nase, trank erst mal sein Glas aus.
»Das müssen Sie die fragen, die behaupten, ihn gestern gesehen zu haben … Ich jedenfalls habe nichts gesehen.«
»Gestern?«
Schulterzucken. Man sah einen riesigen Dampfer zwischen den Steinmauern der Schleuse dahingleiten, eine die Umgebung überragende schwarze Masse mit einem Kamin, der höher war als die den Kanal säumenden Bäume.
»Ich muß jetzt gehen.«
»Ich auch.«
»Wieviel macht das, Mademoiselle?« fragte Maigret.
»Sie werden doch sicher wiederkommen. Die Wirtin ist gerade nicht hier …«
Für die Leute, die immer noch darauf warteten, daß sich rund um das Haus des Kapitäns etwas tat, war der Anblick des die Schleuse durchfahrenden englischen Dampfers eine willkommene Ablenkung. Maigret verließ die Kneipe. Im gleichen Augenblick traf ein Mann im Dorf ein. Der Kommissar ahnte, daß es sich um den Bürgermeister handelte, den er bisher nur einmal bei Dunkelheit gesehen hatte.
Der Mann, der zwischen fünfundvierzig und fünfzig Jahren alt war, war sehr groß und kräftig und hatte ein rotes Gesicht. Er trug einen grauen Jagdanzug, und seine Beine steckten in Gamaschen, wie Flieger sie trugen. Maigret ging auf ihn zu.
»Monsieur Grandmaison? … Kommissar Maigret von der Kripo …«
»Sehr erfreut«, sagte der andere mechanisch.
Und er betrachtete die Kneipe, dann Maigret, dann nochmals die Kneipe, als wollte er sagen: Ein fragwürdiges Lokal für einen hohen Beamten!
Er setzte seinen Weg zur Schleuse fort, die man, um zum Haus zu gelangen, überqueren mußte.
»Joris ist anscheinend gestorben?«
»Anscheinend«, erwiderte Maigret, dem dieses Gebaren nicht behagte.
Ein Benehmen, wie es nicht besser zur Tradition hätte passen können: Das der hochgestellten Persönlichkeit eines kleinen Nestes, die sich für den Mittelpunkt der Welt hält, sich wie ein Landedelmann kleidet und sich für die Demokratie aufopfert, indem sie zerstreut Hände drückt, den Menschen der Region vage Grüße zuwinkt und sie gelegentlich nach dem Ergehen ihrer Kinder fragt.
»Haben Sie den Mörder? Schließlich haben ja Sie Joris hergebracht und Sie … Gestatten Sie?«
Er trat zu dem Fischerei-Aufseher, der ihm bei der Entenjagd offenbar als Gehilfe diente, denn er sagte zu ihm: »Das Schilf am linken Ufer muß wieder aufgerichtet werden … Einer der Lockvögel taugt überhaupt nichts! Er war schon halb hinüber heute morgen …«
»Sehr wohl, Herr Bürgermeister.«
Er kam zurück zu Maigret, jedoch nicht ohne zuvor noch die Hand des Hafenmeisters zu drücken und zu murmeln:
»Wie geht’s«
»Danke, Herr Bürgermeister.«
»Worüber sprachen wir, Kommissar? … Was ist überhaupt Wahres dran an diesen ganzen Geschichten von einem gespaltenen Schädel, der operiert wurde, von Verrücktheit und was weiß ich noch alles …«
»Haben Sie Kapitän Joris sehr geschätzt?«
»Er stand achtundzwanzig Jahre in meinen Diensten; er war ein anständiger Mensch und sehr gewissenhaft in seinem Beruf.«
»Ehrlich?«
»Das sind sie fast alle.«
»Wieviel verdiente er?«
»Das war unterschiedlich, wegen des Krieges, der ja alles durcheinandergebracht hat … Immerhin genug, um sich sein kleines Haus leisten zu können. Und ich wette, daß er mindestens zwanzigtausend Francs auf der Bank hatte.«
»Mehr nicht?«
»Vielleicht noch fünftausend dazu, mehr glaube ich nicht.«
Die stromaufwärts gelegenen
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