Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet
es bereits wissen, ja, ich war dort …«
»In Sancerre?«
Henry rührte sich nicht.
»Und Sie hatten eine Auseinandersetzung mit Ihrem Vater. Auf der alten Schloßstraße …«
Maigret war unsicher. Bei weitem unsicherer als der andere. Er hatte das Gefühl, daß dieser ihn auflaufen ließ. Seine Stimme fand keinen Widerhall, seine Vermutungen blieben ohne Echo.
Das Verwirrendste war Henry Gallets unergründliches Schweigen. Er nahm sich nicht einmal die Mühe zu einer Erklärung. Er wartete.
»Was taten Sie in Sancerre?«
»Ich besuchte meine Freundin. Eléonore Boursang. Sie verbringt ihre Ferien in der ›Pension Germain‹ an der Route de Sancerre, bei Saint-Thibaut.«
Unmerklich hob er die Brauen. Sie waren so dicht wie die seines Vaters.
»Wußten Sie nicht, daß Ihr Vater sich ebenfalls in Sancerre befand?«
»Hätte ich das gewußt, wäre ich ihm aus dem Weg gegangen.«
Immer diese lakonischen Antworten, die den Kommissar zu neuen Fragen zwangen!
»Wußten Ihre Eltern von diesem Verhältnis?«
»Mein Vater ahnte etwas. Er war dagegen.«
»Worüber haben Sie sich gestritten?«
»Geht es Ihnen eigentlich um den Mörder oder um das Opfer?« fragte der junge Mann gedehnt.
»Ich werde den Mörder kennen, wenn ich das Opfer kenne. Hat Ihr Vater Ihnen Vorwürfe gemacht?«
»Im Gegenteil. Ich war es, der ihm Vorwürfe machte, weil er mir nachspionierte.«
»Und dann?«
»Nichts. Er nannte mich einen respektlosen Sohn, das ist alles. Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mich heute wieder daran erinnern.«
Maigret war froh, als er Schritte auf der Treppe hörte.
Madame Gallet trat ein, würdevoll wie eh und je. Sie trug eine Kette aus dicken, mattschimmernden Perlen, die ihren üppigen Hals eher unvorteilhaft zur Geltung brachte.
»Was geht hier vor?« fragte sie, und ihre Augen wanderten von Maigret zu ihrem Sohn. »Weshalb hast du mich nicht gerufen, Henry?«
Das Dienstmädchen klopfte und kam herein.
»Die Tapezierer wollen die Tücher abnehmen.«
»Gut, aber passen Sie auf die Leute auf!«
»Ich bin gekommen, um mir einige Auskünfte zu beschaffen, die ich zur Ermittlung des Täters dringend benötige«, erklärte Maigret in etwas zu schroffem Ton. »Ich weiß, der Augenblick ist denkbar ungünstig. Ihr Sohn hat mich bereits darauf aufmerksam gemacht. Aber mit jeder Stunde, die ungenützt verstreicht, wird die Festnahme des Täters problematischer.«
Er warf einen Blick auf Henry, der in seiner abweisenden Pose verharrte.
»Besaßen Sie eigenes Vermögen, Madame, als Sie Emile Gallet heirateten?«
Ihre Schultern schienen sich zu straffen, während sie mit einer von Stolz vibrierenden Stimme erwiderte:
»Ich bin die Tochter von Auguste Préjean!«
»Verzeihung, aber …«
»Er war Sekretär des letzten Prinzen von Bourbon. Und Chefredakteur der royalistischen Zeitschrift Le Soleil . Mein Vater steckte den letzten Centime, den er besaß, in dieses Blatt, das für die Sache der Royalisten kämpfte …«
»Leben Ihre Verwandten noch?«
»Es muß noch welche geben. Seit meiner Heirat haben wir nicht mehr miteinander verkehrt.«
»War Ihre Familie gegen diese Heirat?«
»Das, was ich Ihnen eben erzählt habe, sollte Ihnen helfen, die Situation etwas besser zu verstehen. Meine ganze Familie ist royalistisch gesinnt. Meine Onkel hatten – und haben heute noch – bedeutende Stellungen inne. Man grollte mir, weil ich einen Handlungsreisenden heiratete …«
»Waren Sie mittellos, als Ihr Vater starb?«
»Er starb ein Jahr nach meiner Hochzeit. Als wir heirateten, besaß mein Mann etwa dreißigtausend Franc.«
»Und seine Familie?«
»Die habe ich nie kennengelernt. Er erwähnte sie mir gegenüber auch kaum. Ich weiß nur, daß er eine schwere Kindheit gehabt und mehrere Jahre in Indochina gelebt hat …«
Über die Lippen des Sohnes huschte ein verächtliches Lächeln.
»Ich stelle Ihnen diese Fragen, weil ich gestern erfahren habe, daß Ihr Mann seit achtzehn Jahren nicht mehr für die Firma Niel tätig war …«
Sie starrte erst den Kommissar, dann Henry an und rief empört:
»Monsieur …!«
»Diese Auskunft stammt von Monsieur Niel persönlich.«
»Kommissar, vielleicht sollten wir besser …« begann der junge Mann, auf Maigret zutretend.
»Nein, Henry! Ich will ihm beweisen, daß das nicht stimmt, daß es eine gemeine Lüge ist. Kommen Sie mit, Kommissar! Ja, doch! Folgen Sie mir!«
Zum erstenmal verlor sie die Fassung. Sie trat in den Flur und schritt quer durch den
Weitere Kostenlose Bücher