Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet
Verstorbene arbeitete. Immer am gleichen Datum. Und Zeitungen …«
»Was für Zeitungen?«
»Provinzblätter, hauptsächlich aus der Gegend des Berry und Cher. Auch Zeitschriften. La Vie à la Campagne, Chasse et Pêche, La Vie de Château …«
Maigret bemerkte, daß der Mann seinem Blick auswich.
»Gibt es in Saint-Fargeau einen Schalter für postlagernde Sendungen?«
»Wie meinen Sie das?«
»Erhielt Monsieur Gallet nicht noch andere Briefe?«
Der Briefträger wand sich vor Verlegenheit.
»Da Sie offenbar Bescheid wissen …« stotterte er, »und wo er doch tot ist und ich nicht einmal gegen das Postreglement verstoßen habe … Er hatte mich nur gebeten, gewisse Briefe nicht in den Briefkasten zu werfen, sondern bis zu seiner Rückkehr aufzubewahren, wenn er auf Reisen war …«
»Was für Briefe?«
»Ach, viele waren es nicht. So alle zwei, drei Monate einer. Blaue Umschläge, billig. Die Adresse war mit der Maschine geschrieben.«
»Und der Absender?«
»Ohne Adresse. Aber ein Irrtum war ausgeschlossen, weil auf der Rückseite immer das gleiche stand: ›Absender: Monsieur Jacob.‹ Auch in Maschinenschrift. Kriege ich jetzt Schwierigkeiten?«
»Woher kamen die Briefe?«
»Aus Paris.«
»Wissen Sie, aus welchem Arrondissement?«
»Ich habe mir die Poststempel angesehen. Es war jedesmal ein anderer.«
»Wann kam der letzte?«
»Moment … Heute haben wir den 29. nicht wahr? Mittwoch. Dann war es am vergangenen Donnerstag. Aber Monsieur Gallet sah ich erst am Freitagmorgen, als er angeln ging.«
»Ging er wirklich angeln?«
»Nein, er ging wieder nach Hause, nachdem er mir wie üblich fünf Franc gegeben hatte. Für mich war es wirklich ein Schock, wissen Sie, als ich hörte, er sei ermordet worden. Glauben Sie, der Brief …?«
»Ist er noch am gleichen Tag abgereist?«
»Ja … Verzeihung, aber warten Sie nicht auf den Zug aus Melun? An der Schranke hat es soeben geklingelt … Hören Sie, kommt das alles in Ihren Rapport …?«
Maigret lief auf den Bahnsteig und erwischte eben noch rechtzeitig den einzigen Wagen erster Klasse.
4
Der Royalisten-Betrüger
Bei seiner zweiten Ankunft im ›Hôtel de la Loire‹ reagierte Maigret ohne Wärme auf Monsieur Tardivons freudige Begrüßung. Mit Verschwörermiene geleitete der Wirt ihn in sein Zimmer und überreichte ihm mehrere an ihn adressierte, dicke gelbe Umschläge. Die Briefe enthielten die Berichte des Polizeiarztes, der Gendarmerie von Sancerre und der Polizei von Nevers. Rouen hatte ergänzende Auskünfte über die Kassiererin Irma Strauss geschickt.
»Aber das ist noch nicht alles!« frohlockte der Wirt. »Der Wachtmeister von Sancerre war eben hier. Fragte nach Ihnen. Er möchte, daß Sie ihn gleich anrufen. Außerdem hat eine Frau schon dreimal gefragt, wann Sie endlich kämen. Wahrscheinlich wegen der Belohnung …«
»Wer ist die Frau?«
»Die alte Canut. Ihr Mann ist Gärtner im Schlößchen. Vom Schlößchen habe ich Ihnen doch erzählt, erinnern Sie sich?«
»Was will sie?«
»Das hat sie nicht gesagt. So dumm ist sie nicht, daß sie sich die Würmer aus der Nase ziehen läßt, wenn’s was zu verdienen gibt, sofern sie überhaupt etwas weiß.«
Maigret hatte das rosa Aktenheft und die Fotografie von Gallet auf dem Tisch ausgebreitet.
»Lassen Sie die Frau holen und verbinden Sie mich mit der Gendarmerie.«
Der Wachtmeister teilte ihm mit, daß er befehlsgemäß sämtliche Landstreicher im Umkreis von zehn Meilen aufgegriffen habe und dem Kommissar zur Verfügung halte.
»Sind welche dabei, die uns interessieren?«
»Landstreicher sind Landstreicher«, erwiderte der Wachtmeister lakonisch.
Drei, vier Minuten lang saß Maigret allein vor dem Stapel von Papieren in seinem Zimmer. Er erwartete noch mehr. Er hatte Paris telegrafisch um Auskünfte über Henry Gallet und seine Geliebte ersucht und sicherheitshalber auch in Orléans angefragt, ob dort ein Rentner namens Clément wohne.
Im übrigen war er noch nicht einmal dazu gekommen, den Tatort zu besichtigen und die Kleider des Toten, die seit der Autopsie in dessen Zimmer aufbewahrt wurden, zu durchsuchen.
Zu Beginn hatte das Ganze nach nichts ausgesehen. Ein scheinbar ganz gewöhnlicher, harmloser Kleinbürger war in einem Hotelzimmer von unbekannter Hand ermordet worden.
Doch jetzt wurde der Fall mit jeder neu hinzukommenden Meldung komplizierter statt einfacher.
»Soll sie heraufkommen, Kommissar?« rief eine Stimme im Hof. »Es ist die alte Canut …«
Eine
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