Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet
schwarzen Tücherhaufen, den die Tapezierer eben zusammenrollten.
Maigret folgte ihr in den ersten Stock und durch ein Schlafzimmer aus poliertem Nußbaumholz. An einem Kleiderständer hingen ein Strohhut und ein Übergewand aus grobem Tuch, die Emile Gallet beim Fischen getragen haben mußte.
Neben dem Schlafzimmer lag ein kleiner Raum, der als Büro eingerichtet war.
»Hier, sehen Sie! Das sind seine Muster. Dieses scheußliche Art-deco-Besteck zum Beispiel kann noch keine achtzehn Jahre alt sein, nicht wahr? Hier ist das Bestellbuch, das mein Mann an jedem Monatsende nachführte. Und hier sind die Briefe mit dem Aufdruck der Firma Niel, die regelmäßig hier eintrafen …«
Maigret sah kaum hin. Später, das wußte er, würde er in dieses Zimmer zurückkehren, aber jetzt mußte er sich erst mit der Atmosphäre vertraut machen.
Wieder versuchte er sich Emile Gallet vorzustellen, diesmal im Drehsessel vor dem Schreibtisch mit dem Tintenfaß aus weißem Metall und der Kristallkugel, die als Briefbeschwerer diente.
Durch das Fenster konnte man die Hauptallee der Siedlung und das rote Dach einer unbewohnten Villa sehen.
Die Briefe mit dem Firmenaufdruck waren mit der Maschine geschrieben und nach einem mehr oder weniger gleichbleibenden Schema abgefaßt:
Sehr geehrter Monsieur Gallet,
Wir bestätigen den Empfang Ihres Schreibens vom 15. ds. und Ihrer Bestelliste für Januar. Wir erwarten Sie wie üblich am Monatsende, um mit Ihnen abzurechnen und bei der Gelegenheit auch eine mögliche Ausweitung Ihres Arbeitsgebiets zu besprechen.
Mit freundlichen Grüßen Jean Niel
Maigret nahm einige der Briefe an sich und steckte sie ein.
»Na, was sagen Sie jetzt?« fragte Madame Gallet herausfordernd.
»Was ist denn das hier?«
»Ach, das ist nichts … Mein Mann bastelte gern … Was Sie hier sehen, ist eine alte Uhr, die er auseinandergenommen hat. Der Schuppen draußen ist voll von solchen Sachen, Angelgeräten und dergleichen … Er verfügte jeden Monat über acht freie Tage, und seine Korrespondenz beschäftigte ihn jeweils nur eine bis zwei Stunden täglich …«
Maigret zog wahllos Schubfächer heraus. In einem lag ein umfangreiches rosa Aktenheft mit der Aufschrift »Soleil«.
»Papiere meines Vaters«, erklärte Madame Gallet. »Ich weiß nicht, warum wir sie aufbewahrt haben. Im Schrank dort befinden sich sämtliche Sammelbände der Zeitschrift, bis zur letzten Nummer, für die mein Vater seine Obligationen verkauft hat …«
»Darf ich das Aktenheft mitnehmen?«
Sie wandte sich zur Tür, wie um ihren Sohn um Rat zu fragen, aber Henry war nicht mit nach oben gekommen.
»Wozu? Was versprechen Sie sich davon? Für mich ist es eine Art Reliquie … Nun, wenn Sie glauben … Aber nicht wahr, Kommissar, es ist doch einfach unmöglich, was Monsieur Niel behauptet! Es ist wie mit diesen Postkarten. Gestern kam wieder eine. Und es ist seine Handschrift, das weiß ich genau. Sie trägt den Poststempel von Rouen, wie die erste. Lesen Sie selbst: ›Alles geht gut. Bin Donnerstag zurück.‹«
Ihre Stimme hatte zu zittern begonnen.
»Ich bin schon fast soweit, daß ich ihn tatsächlich zurückerwarte. Donnerstag. Das ist morgen …«
Unvermittelt brach sie in Tränen aus, doch ebenso schnell faßte sie sich wieder. Sie schluchzte einmal, zweimal auf, dann führte sie das schwarzeingefaßte Taschentuch zum Mund und flüsterte:
»Gehen wir …«
Maigret mußte noch einmal das spießbürgerlich eingerichtete Schlafzimmer durchqueren. Im Vorbeigehen warf er einen Blick auf den soliden Spiegelschrank, die beiden Nachttischchen, die unechte Perserbrücke. Mittelmäßig – wie alles andere …
Unten im Flur stand Henry und sah geistesabwesend zu, wie die Tapezierer die Wandbehänge auf einen Lieferwagen luden. Er hob nicht einmal den Kopf, als Maigret und seine Mutter die knarrende Treppe herunterkamen.
Eine ungewohnte Betriebsamkeit herrschte im Haus. Maigret sah das Dienstmädchen mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern in den Salon eilen, wo zwei Männer in Überkleidern das Klavier in seine angestammte Ecke schoben.
»Ein Gläschen kann nicht schaden«, brummte eine gleichmütige Stimme.
Maigret blieb stehen. Eine unerklärliche Spannung nahm von ihm Besitz. Ihm war, als verberge sich die ganze Wahrheit in diesem Haus, als hülle sie ihn von allen Seiten ein. Als hätte alles, was er vor sich sah, eine bestimmte Bedeutung.
Wäre bloß dieser Nebel nicht gewesen, der alles verzerrte, der
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