Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet
nicht weichen wollte, der irgendwie zusammenhing mit dieser Frau, die sich gegen ihre Gefühle verhärtete, mit Henry, dessen langes Gesicht undurchdringlicher war als ein Panzerschrank, mit den Wandbehängen, die draußen verladen wurden, vor allem aber mit Maigrets eigener und beschämender Empfindung, hier unerwünscht zu sein!
Er schämte sich, weil er das rosa Aktenheft wie ein Dieb mitlaufen ließ, obgleich er nicht wußte, welchen Nutzen er sich davon versprach. Er wäre gern noch länger oben geblieben, im Arbeitszimmer des Toten. Und er hätte sich gern im Schuppen umgesehen, wo Emile Gallet seine Angelgeräte zu verbessern pflegte …
Er zögerte. Sie standen alle im Flur. Es war Mittagszeit, und die Gallets warteten nur darauf, daß er sich verabschiedete.
Der Geruch von gebratenen Zwiebeln drang aus der Küche. Auch das Dienstmädchen war etwas außer Fassung.
Um den peinlichen Moment zu überbrücken, schauten alle zu, wie die Tapezierer den Salon wieder in Ordnung brachten. Einer von ihnen fand Gallets Bild unter einem Likörtablett.
»Darf ich es mitnehmen?« fragte Maigret die Witwe. »Kann sein, daß es uns weiterhilft …«
Er spürte Henrys verächtlichen Blick.
»Wenn es unbedingt sein muß … Ich besitze sehr wenige Fotografien von ihm …«
»Ich werde es Ihnen zurückschicken.«
Er konnte sich noch immer nicht zum Gehen entschließen. Die Arbeiter schleppten jetzt achtlos eine riesige Vase aus imitiertem Sèvres-Porzellan durch den Flur. Madame Gallet schrie auf:
»Vorsicht! Sie stoßen am Türrahmen an!«
Da war er wieder, dieser Nebel, dieses ungreifbare Gemisch aus Schmerz und Groteske, Tragödie und Spießertum! Maigret schloß sekundenlang die Augen, sah Emile Gallet, den er nie lebend gekannt hatte, durch dieses trostlose Haus irren, mit seinen Augensäcken, seiner kranken Leber, seiner eingefallenen Brust, seinem zu engen Jackett.
Er hatte das Foto in die rosa Akte gleiten lassen. Zögernd streckte er die Hand aus.
»Ich bitte nochmals um Verzeihung, Madame. Ich gehe jetzt. Aber ich wäre froh, wenn Ihr Sohn mich ein Stück weit begleiten würde …«
Madame Gallets Augen ruhten auf Henry, forschend, ängstlich. Trotz ihrer betont würdevollen Haltung, ihren gemessenen Bewegungen, ihrer dreifachen schwarzen Perlenkette schien auch sie zu spüren, daß etwas Unausgesprochenes in der Luft hing …
Der junge Mann nahm gleichgültig seinen von Trauerflor bekränzten Hut vom Haken.
Das Fortgehen war wie eine Flucht. Das Aktenbündel wog schwer. Es war nur eine Kartonhülle mit losen Blättern, die herauszuflattern drohten.
»Sie wickeln es wohl besser in eine Zeitung«, bemerkte Madame Gallet.
Doch Maigret war schon draußen. Durch die offene Haustür sah er das Dienstmädchen mit einem Tischtuch und zwei Messern im Eßzimmer verschwinden.
Stumm, mit verschlossener Miene schritt Henry neben Maigret die Straße zum Bahnhof hinunter.
Als sie sich dreihundert Meter von der Villa entfernt hatten, hörten sie den Motor des Lieferwagens anspringen.
»Ich benötige drei Auskünfte von Ihnen«, sagte Maigret. »Die Adresse von Eléonore Boursang in Paris, Ihre eigene sowie die der Bank, bei der Sie arbeiten.«
Henry nahm einen Bleistift aus der Tasche und notierte auf dem rosa Aktendeckel: Eléonore Boursang: 27, Rue de Turenne. Banque Sovrinos: 117, Boulevard Beaumarchais. Henry Gallet: Hôtel Bellevue, 19, Rue de la Roquette.
»Ist das alles?« fragte der junge Mann.
»Ja. Ich danke Ihnen.«
»Dann kann ich nur hoffen, daß Sie sich jetzt endlich um den Mörder kümmern.«
Er wartete die Wirkung seiner Worte nicht ab. Flüchtig tippte er an den Rand seines Hutes und kehrte um.
Der Lieferwagen fuhr an Maigret vorbei, kurz bevor der Bahnhof in Sicht kam.
Die letzte nützliche Information an jenem Tag verdankte Maigret dem Zufall. Er war eine Stunde zu früh am Bahnhof und ließ sich in einer Wolke von Fliegen auf einer Bank im leeren Wartesaal nieder.
Ein Briefträger, dessen blauroter Nacken einen nahe bevorstehenden Schlaganfall befürchten ließ, fuhr auf dem Rad vor und breitete seine Postsäcke auf dem Gepäcktisch aus.
»Sind Sie der Mann, der die Post in die Villa Les Marguerites bringt?« erkundigte sich der Kommissar.
Der Briefträger, der ihn nicht bemerkt hatte, fuhr hoch.
»Warum fragen Sie?«
»Polizei. Ich habe eine Frage an Sie. Bekam Monsieur Gallet häufig Briefe?«
»Häufig? Nein! Hin und wieder einen von der Firma, für die der arme
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