Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet
Wiedersehen!«
Maigret hängte auf.
»Da sieht man wieder, wie leicht man sich täuschen kann«, seufzte er. »Man sollte sich nie zu früh freuen!«
Mit einem bitteren Lachen fuhr er fort:
»Bei allem, was wir eben sagten, gingen wir von der Voraussetzung aus, daß unser Emile Gallet nicht Linkshänder war. Wenn er es aber war, dann kann er das Messer gegen seinen Angreifer verwendet haben. Das hat man nun davon, wenn man sich auf die Aussagen eines Wirts und seines Personals verläßt!«
Monsieur Tardivon, der die letzten Worte mitbekommen hatte, kniff den Mund zusammen.
»Das Abendessen steht bereit!« verkündete er beleidigt.
»Eine Minute! Wir sind gleich fertig. Ich will Ihre Geduld nicht länger strapazieren, Monsieur de Saint-Hilaire! Kehren wir in das Mordzimmer zurück, wie es genannt wird!«
Wieder im Zimmer, drehte Maigret sich unvermittelt um.
»Sie haben Emile Gallet lebend gekannt, Monsieur! Und was ich Ihnen jetzt sage, wird Sie vielleicht amüsieren … Ja, zünden Sie die Lampe an! Bei der Finsternis da draußen wird es heute ohnehin eine Stunde früher dunkel werden.
Sehen Sie, ich selbst habe ihn nie gekannt und versuche nun seit diesem Mord schon die ganze Zeit, mir ihn lebend vorzustellen.
Deshalb bin ich seinen Spuren gefolgt, um die Atmosphäre einzuatmen, die ihn umgab, um die Menschen, mit denen er verkehrte, kennenzulernen …
Sehen Sie sich dieses Foto an! Ich bin sicher, Sie denken dasselbe wie ich: ›Ein armer Teufel!‹
Vor allem, wenn man weiß, daß der Arzt ihm keine drei Jahre mehr gab … Eine zerfressene Leber … Ein schwaches Herz, das nur auf einen Vorwand wartete, um stillzustehen …
Ich wollte mir das Leben dieses Mannes vorstellen, nicht nur räumlich, auch zeitlich … Leider konnte ich es nur bis zu seiner Heirat zurückverfolgen, denn mit Auskünften über seine Vergangenheit ging er selbst seiner eigenen Frau gegenüber äußerst sparsam um. Seine Frau weiß nur, daß er aus Nantes gebürtig war und mehrere Jahre in Indochina lebte. Aber er hat kein einziges Foto oder Erinnerungsstück aus jener Zeit mit nach Hause gebracht. Und er sprach nie darüber.
Er ist ein unbedeutender Handlungsreisender, der ein bißchen Geld hat. Mit dreißig ist er schon verbraucht, untüchtig, hoffnungslos.
Er lernt Aurore Préjean kennen und beschließt, sie zu heiraten. Die Préjeans sind ehrgeizige Leute … Der Vater steht vor dem Ruin. Er weiß nicht, womit er seine Zeitung finanzieren soll. Aber er war einmal Privatsekretär eines Thronanwärters, korrespondierte mit Prinzen, mit Herzögen …
Seine jüngste Tochter hat einen Gerbereibesitzer geheiratet. In diesem Kreis macht unser Gallet eine klägliche Figur. Wahrscheinlich akzeptiert ihn die Familie nur, weil er sich bereit erklärt, sein kleines Kapital in den Soleil zu stecken.
Ansonsten wird er gerade noch geduldet. Ein Schwiegersohn, der mit armseligen versilberten Geschenkartikeln hausiert, bedeutet für die Préjeans einen gesellschaftlichen Abstieg.
Sie versuchen seinen Ehrgeiz anzustacheln. Er widersetzt sich … Er wird nie Karriere machen, das liegt ihm nicht. Seine Leber ist schon damals angegriffen. Er träumt von einem friedlichen Leben auf dem Land, mit seiner Gattin, für die er eine tiefe Zärtlichkeit empfindet.
Aber auch sie läßt ihm keine Ruhe. Sie leidet unter ihren hochmütigen Schwestern, die sie wie eine arme Verwandte behandeln und ihr dauernd ihre unstandesgemäße Heirat vorwerfen.
Préjean stirbt. Der Soleil geht ein. Emile Gallet verkauft nach wie vor seinen Kitsch in den normannischen Bauerndörfern.
Zum Ausgleich geht er fischen, erfindet neue, verbesserte Angelgeräte, nimmt Wecker und Wanduhren auseinander …
Sein Sohn hat von ihm das Aussehen und die kranke Leber und von den Préjeans den Ehrgeiz geerbt.
So kommt es, daß Emile Gallet eines Tages beschließt, etwas zu unternehmen. Préjean hat ihm die Archive des Soleil hinterlassen. Er entdeckt, daß eine Menge Leute bereit sind, die royalistische Bewegung durch Geldspenden zu unterstützen.
Er unternimmt einen ersten Versuch. Er erzählt niemandem davon. Wahrscheinlich betreibt er sein Schwindlerhandwerk anfänglich nur so nebenbei, während er seiner gewohnten Beschäftigung als Vertreter der Firma Niel & Co. nachgeht.
Mit der Zeit erweist sich der Schwindel als ergiebiger. Schon nach kurzer Zeit kann er sich in Saint-Fargeau ein Grundstück kaufen und eine Villa bauen.
Seine angeborene Ordnungsliebe, seine
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