Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet
der Leiche aufgenommen hat. Nun, was zeigt es uns? Daß Emile Gallet am linken Handgelenk blaue Flecke hatte …
Was ist denn los, Tardivon? … Schon Nevers? … Nein? … Ach so, die Mädchen behaupten, Gallet sei nicht Linkshänder gewesen? Danke, das ist alles.
Nun, Monsieur de Saint-Hilaire? Wie erklären Sie sich das?
Gallet war nicht Linkshänder, dennoch hielt er die Waffe in der Linken, und beim Lokalaugenschein wurde festgestellt, daß er nichts in der rechten Hand hielt.
Ich sehe nur eine Lösung. Schauen Sie her! Ich will mir diese Klinge ins Herz stoßen. Wie stelle ich das an? Achten Sie genau auf meine Bewegungen!
Ich packe den Griff mit der Linken. Diese gebrauche ich aber nur, um das Messer am richtigen Punkt anzusetzen. Meine rechte Hand ist stärker, also drücke ich mit der rechten Hand auf die linke … So! Wie Sie sehen, halte ich das linke Handgelenk mit den Fingern umklammert. Ich presse die Finger zusammen, so fest ich kann, weil ich in panischer Angst bin und mich gegen den bevorstehenden Schmerz wappnen muß. So fest, daß ich mir selber blaue Flecke beibringe …«
Achtlos warf Maigret das Messer wieder auf den Tisch.
»Wenn wir annehmen, daß die Dinge sich tatsächlich so abgespielt haben, müssen wir natürlich auch annehmen, daß Gallet sich tatsächlich umgebracht hat. Gallets Arm war nun aber nicht so lang, daß er mit einem Revolver aus sieben Metern Entfernung auf sein Gesicht zielen konnte, nicht wahr?
Geben wir’s auf! Lassen wir uns etwas Neues einfallen!«
Saint-Hilaire trug immer noch sein gezwungenes Lächeln zur Schau, doch seine Pupillen hatten sich geweitet und folgten Maigret auf Schritt und Tritt, während dieser im Zimmer umherwanderte, seine planlosen Gebärden vollführte, das rosa Aktenbündel aufschlug, es wieder zuklappte, unter ein grünes Dossier schob, mit der Fußspitze einen Schuh des Toten wegrückte.
»Kommen Sie mit! Ja, durch das Fenster … Wir stehen jetzt auf dem Brennesselweg. Stellen wir uns vor, es ist Samstagabend und stockdunkel.
Man hört den Lärm der Schießbuden. Man sieht vielleicht sogar den Widerschein des Karussells am Himmel.
Emile Gallet hat sein Jackett ausgezogen, schwingt sich auf die Mauer. Kein leichtes Unterfangen für einen Mann in seinem Alter, der noch dazu von Krankheit geschwächt ist.
Folgen Sie mir!«
Er stapfte Saint-Hilaire voraus zum Seitentor, öffnete es, ließ es wieder ins Schloß fallen.
»Geben Sie mir den Schlüssel. So. Dieses Tor war verschlossen, und der Schlüssel lag in seinem üblichen Versteck zwischen diesen beiden Steinen. Das hat mir Ihr Gärtner selber gesagt …
Wir gehen in Ihr Haus. Vergessen Sie nicht, es ist dunkel! Und es geht jetzt nur darum, daß wir die Bedeutung gewisser Indizien erkennen – oder besser gesagt, daß wir versuchen, scheinbar widersprüchliche Indizien aufeinander abzustimmen.
Hier entlang! Überlegen wir uns jetzt folgendes: Jemand befindet sich im Park, den Emile Gallets Verhalten beunruhigt, was übrigens auf eine ganze Anzahl Leute zutreffen dürfte. Gallet ist bekanntlich ein Schwindler, und weiß der Himmel, was er sonst noch auf dem Kerbholz hat.
Auf dieser Seite der Mauer befindet sich also eine Person, jemand wie Sie und ich, der weiß, daß Gallet an diesem Abend nervös ist. Der vielleicht sogar weiß, daß Gallet verzweifelt ist.
Unser Mann – nennen wir ihn X, wie in der Algebra – spaziert an der Mauer entlang und sieht plötzlich Emile Gallet alias Monsieur Clément über sich auftauchen. Ohne Jackett.
Kann man von der Villa aus diesen Teil der Mauer überblicken?«
»Nein. Ich verstehe nicht, worauf Sie …«
»Worauf ich hinauswill? Ich will gar nichts. Wir führen unsere Untersuchung fort, auch wenn wir hundert Hypothesen aufstellen und wieder verwerfen müssen.
Apropos, eine lasse ich bereits fallen. X spaziert nicht an der Mauer entlang. Er hat die leeren Fässer gesehen, und anstatt mühsam auf die Mauer zu klettern, um zu sehen, was sich da tut, rollt er eines der Fässer heran und benutzt es als Trittleiter.
Genau in dem Augenblick, da Gallets Silhouette sich gegen den Himmel abzeichnet.
Die beiden wechseln kein Wort. Denn wenn sie sich etwas zu sagen hätten, würden sie näher zusammenrücken. Auf zehn Meter Distanz muß man laut sprechen, damit man gehört wird. Und Leute, die sich unter so merkwürdigen Umständen treffen – der eine auf einem Faß, der andere auf einer Mauer balancierend –, wollen natürlich keine
Weitere Kostenlose Bücher