Maigret und die alte Dame
zweihundert Personen Platz nehmen konnten, wo aber heute kaum mehr als zwanzig Gäste zu erwarten waren.
»Das einfachste wäre, Sie würden mit mir hier etwas essen. Ich könnte einen etwas ruhigeren Tisch aussuchen ...«
Weniger verlegen als er, nahm sie seinen Vorschlag ganz selbstverständlich, und ohne sich zu bedanken, an und folgte ihm in den noch leeren Saal.
»Können wir schon etwas zu essen bekommen?« fragte er die Bedienung.
»In einigen Minuten. Sie können schon Platz nehmen. Zwei Gedecke?«
»Einen Augenblick. Können wir etwas zu trinken bestellen?«
Er wandte sich fragend an Arlette.
»Martini«, sagte sie herablassend.
»Zwei Martinis.«
Er war immer noch etwas verlegen, nicht nur, weil ein Mann am letzten Sonntag einen Teil der Nacht in Arlettes Zimmer verbracht hatte. Sie war der Typ einer hübschen Frau, mit der ein Mann durch einen glücklichen Zufall allein diniert, wobei er heimlich die Eintretenden mustert, aus Angst, erkannt zu werden. Und nun aß er hier mit ihr zu Abend.
Sie kam ihm nicht entgegen, sah ihn ruhig an, als ob es an ihm wäre zu sprechen und nicht an ihr.
»Sie sind also wieder aus Paris gekommen«, sagte er einlenkend.
»Sollten Sie erraten haben, warum?«
Wahrscheinlich war sie hübscher als ihre Mutter es je gewesen war, aber im Gegensatz zu ihr wollte Arlette nicht gefallen, blieb zurückhaltend, und es fehlte die Herzlichkeit in ihren Augen.
»Wenn Sie es noch nicht wissen, werde ich es Ihnen sagen.«
»Wollen Sie über Hervé sprechen?«
Die Martinis wurden serviert, sie nippte daran, holte ein Taschentuch aus ihrer schwarzen Wildledertasche und griff automatisch nach einem Lippenstift, den sie aber nicht benutzte.
»Was wollen Sie unternehmen?« fragte sie und schaute ihm dabei direkt in die Augen.
»Ich verstehe die Frage nicht.«
»Ich kenne mich nicht besonders aus in diesen Dingen, aber ich lese ab und zu Zeitung. Bei einem solchen Unglück wie am Sonntag Abend wühlt die Polizei gewöhnlich im Privatleben aller mehr oder weniger daran Beteiligten, wobei es keine Rolle spielt, ob man nun schuldig oder unschuldig ist. Da ich verheiratet bin und meinen Mann sehr liebe, frage ich Sie, was Sie tun werden.«
»Wegen des Taschentuchs?« »Vielleicht.«
»Ist Ihr Mann nicht informiert?«
Er sah, wie ihr Mund vor Ungeduld oder vor Wut zitterte, und sie sagte nur:
»Sie reden wie meine Mutter.«
»Weil Ihre Mutter glaubte, dass Ihr Mann vielleicht Bescheid weiß über Ihre außerehelichen Beziehungen?«
Sie lachte kurz und verächtlich.
»Sie überlegen sich genau, was Sie sagen, nicht wahr?«
»Wenn es Ihnen lieber ist, werde ich offen mit Ihnen reden. Nach allem, was Sie mir gesagt haben, glaubte Ihre Mutter, Ihr Mann wäre diesbezüglich äußerst großzügig.«
»Wenn sie es nicht gedacht hat, so hat sie es gesagt.«
»Da ich ihn nicht kennengelemt habe, kann ich dazu nichts sagen. Jetzt...«
Sie schaute ihn immer noch unverwandt an, und er sagte absichtlich boshaft:
»Nun, Sie sind selber schuld, wenn jemand auf diese Gedanken kommt. Sie sind 38 Jahre alt, glaube ich? Sie sind seit achtzehn Jahren verheiratet. Es fällt einem schwer zu glauben, dass Ihr Abenteuer am Sonntag das erste dieser Art sein soll.«
»Es ist allerdings nicht das erste.«
»Sie verbrachten eine Nacht im Haus Ihrer Mutter und meinten, Ihren Geliebten dort einschmuggeln zu müssen.«
»Vielleicht haben wir nicht so oft Gelegenheit, eine Nacht zusammen zu verbringen.«
»Ich urteile nicht, ich konstatiere. Deswegen anzunehmen, dass Ihr Mann im Bilde ist...«
»Er war es nicht und ist es noch nicht. Deshalb bin ich auch zurückgekommen nach meiner etwas überstürzten Abreise.«
»Warum sind Sie Montagmittag abgefahren?«
»Ich wusste nicht, was aus Hervé geworden war, als er das Haus verlassen hatte, weil Rose anfing zu stöhnen. Ich wusste nicht, wie mein Mann auf die Nachricht reagieren würde. Ich wollte vermeiden, dass er herkommt.«
»Ich verstehe. Und als Sie in Paris waren, haben Sie sich Sorgen gemacht.«
»Ja. Ich rief Charles an, und er erzählte mir, dass Sie mit den Ermittlungen beauftragt worden seien.«
»Hat Sie das beruhigt?«
»Nein.«
»Kann ich servieren, meine Herrschaften?«
Er nickte, und sie redeten erst weiter, als sie die Suppe vor sich hatten.
»Erfährt mein Mann etwas davon?«
»Nur wenn es unbedingt notwendig ist.«
»Verdächtigen Sie mich, ich hätte versucht, meine Mutter zu vergiften?«
Er vergaß, den Löffel in den
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