Maigret und die alte Dame
blieb ihm nichts anderes übrig. Er merkte, dass ich Bescheid wusste.«
»Und woher wussten Sie es?«
»Erstens, weil ich ihn gestern in Begleitung von Roses Bruder getroffen habe.«
»Henri?«
»Ja. Sie unterhielten sich ziemlich lange in einem Café in der Stadt.«
»Wo hat er ihn kennengelemt?«
»Ich weiß es nicht. Wie er sagte, wusste auch Henri davon und wollte von ihm eine Erklärung.«
»Das ist zu komisch! Wenn nicht ausgerechnet Sie mir das bestätigen würden... Sehen Sie, Monsieur Maigret, man muss Theo kennen, um zu merken, wie komisch das ist, was Sie mir gerade erzählen. Er ist der größte Snob auf der Welt. Das ist vielleicht sein einziger Lebenszweck geworden. Er würde sich lieber irgendwo zu Tode langweilen, wenn es nur eine feine Gesellschaft ist, und er würde Hunderte von Kilometern fahren, um in Begleitung einer prominenten Persönlichkeit gesehen zu werden.«
»Das weiß ich.«
»Und dann geht er mit Rose händchenhaltend spazieren... Hören Sie! Es gibt da etwas, das Sie nicht wissen, woran keiner gedacht hat, Ihnen das von meinem Dienstmädchen zu erzählen. Schade, dass ihre Eltern ihre paar Habseligkeiten mitgenommen haben. Ich hätte Ihnen sonst ihre Kleider, vor allem ihre Hüte gezeigt. Sie müssen sich die ausgefallensten Farben vorstellen, Farben, die überhaupt nicht zusammenpassen. Rose hatte einen enormen Busen. Wenn sie nun ausging - hier im Haus hätte ich ihr nie erlaubt, so herumzulaufen -, trug sie so enge Kleider, dass sie kaum atmen konnte. Und an diesen Tagen ging sie mir beim Kommen und Gehen aus dem Weg, weil sie so übertrieben und schlecht geschminkt war, dass man sie für eines dieser Mädchen halten konnte, die in Paris an gewissen Straßenecken stehen. Theo und sie! Du lieber Gott!«
Und sie lachte wieder, diesmal etwas nervöser.
»Sagen Sie, wohin gingen sie zusammen?«
»Ich weiß nur, dass sie sich auf dem Jahrmarkt von Vaucottes getroffen und in einem kleinen Café in Etretat etwas getrunken haben.«
»Ist das schon lange her?«
Er schien jetzt beinahe zu schlafen. Mit einem undefinierbaren Lächeln beobachtete er sie durch die halbgeschlossenen Augenlider.
»Das letzte Mal am vorigen Mittwoch.«
»Hat Theo das zugegeben?«
»Nicht gerade gern, aber immerhin.«
»Man hat sie sicher gesehen. Ich hoffe wenigstens, dass er nicht wie der Liebhaber meiner Tochter durch das Fenster in mein Haus eingestiegen ist, um sie zu sehen.«
»Er versichert, dass es nicht so war.«
»Theo«, wiederholte sie immer noch ungläubig.
Dann stand sie auf und füllte die Gläser nach.
»Wenn ich mir vorstelle, dass Henri, der Dickkopf in der Familie, von ihm Rechenschaft verlangt. Aber...«
Ihr eben noch ironischer Gesichtsausdruck wurde nachdenklich und wich dann einer belustigten Miene.
»Das wäre die Höhe... Seit zwei Monaten ist Theo in Etretat, nicht wahr... Stellen Sie sich bloß vor... Nein! Das wäre ungeheuerlich...«
»Sie meinen, wenn sie ein Kind bekommen hätte...«
»Nein! Entschuldigen Sie, das kam mir nur gerade so... Hatten Sie auch daran gedacht?«
»Beiläufig.«
»Es würde nichts erklären.«
Der Gärtner tauchte hinter der Glastür auf und wartete, ohne sich zu bewegen, weil er sicher war, dass man ihn schließlich bemerken würde.
»Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick! Ich muss ihm sagen, was er machen soll.«
Was war das? Er hörte das Ticken einer Uhr, das ihm bis jetzt nicht aufgefallen war, und fand schließlich auch heraus, dass das gleichmäßige Geräusch aus dem ersten Stock, das man durch die hellhörige Decke dieses Spielzeughauses hörte, das Schnurren der Katze war, die sicher auf dem Bett ihrer Herrin lag.
Die Sonne schien durch das Fenster und warf kleine Karos, spielte auf den Nippsachen, die dabei glänzten, und auf dem spiegelblanken Tisch zeichneten sich die klaren Umrisse eines Lindenblatts ab.
Madame Leroy machte einen solchen Krach in der Küche, dass man glauben konnte, sie stelle die ganze Einrichtung auf den Kopf. Draußen im Garten hörte man wieder das gleichmäßig kratzende Geräusch.
Maigret meinte, er hätte dieses Geräusch die ganze Zeit gehört, und doch war er, als er die Augen aufschlug, überrascht, Valentines Gesicht in etwa einem Meter Abstand vor sich zu sehen. Sie lächelte ihn gleich an, damit er nicht in Verlegenheit kommen würde, während er mit belegter Stimme murmelte:
»Ich glaube, ich habe ein Nickerchen gemacht.«
7
Die Vorhersagen des Kalenders
Beim Abschied waren
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