Maigret und die alte Dame
einmal unter seinem Dach war, aber auch erst nach langem Zögern. Der eine Sohn war auch noch da, denn sein Schiff läuft erst heute Nacht aus, aber er trank nicht mit.«
»Henri, der Älteste?«
»Ja. Er sagte kein einziges Wort. Ich glaube, er hat ihnen geraten zu schweigen. Wenn ich den Vater in einem Restaurant in Fécamp getroffen und er schon einiges getrunken hätte, würde er sicher mehr sagen. Was haben Sie gemacht?«
»Ich habe mit den beiden Bessons geredet, zuerst mit Charles, dann mit Theo.«
Sie setzten sich zu Tisch. Vor ihnen stand eine Flasche Weißwein, und der Inspektor füllte die beiden Gläser. Maigret achtete nicht darauf, und als sie den Speisesaal verließen, hätte er am liebsten ein Mittagsschläfchen gehalten, bei weit offenen Fenstern zur Sonne und zum Meer hin.
Irgendein Ehrgefühl hielt ihn ab. Auch ein Erbe aus der Kindheit, eine Art Pflichtbewusstsein, das er gerne übertrieb; das Gefühl, für sein Geld nie genug zu arbeiten. Das ging sogar so weit, dass er im Urlaub - zu dem er nicht jedes Jahr kam, zum Beispiel auch dieses Jahr nicht - beinahe Schuldgefühle hatte.
»Was soll ich jetzt machen?« fragte Castaing und war überrascht, dass der Kommissar so schläfrig und unentschlossen war.
»Was du magst, mein Sohn. Suche weiter. Ich weiß nicht, wo. Vielleicht könntest du den Doktor noch einmal aufsuchen.«
»Doktor Jolly?«
»Ja. Und die Leute. Egal, wen! Auf gut Glück! Das alte Fräulein Seuret langweilt sich allein und ist sicher zu einem Schwatz aufgelegt.«
»Soll ich Sie irgendwo absetzen?«
»Danke.«
Er wusste, dass ein solcher Punkt bei jedem Fall zu überwinden war, und dass er dann - zufällig oder instinktiv - jedes Mal ein bisschen zu viel getrunken hatte.
Jedes Mal, wenn, wie er es nannte, >die Sache ins Rollen kam<. Anfangs kannte er nur die nüchternen Fakten, wie sie in den Berichten festgehalten werden. Dann traf er Leute, die er nie zuvor gesehen hatte, die er tags zuvor noch nicht kannte, und er schaute sie an wie Fotos in einem Album.
Man musste den anderen so schnell wie möglich durchschauen, Fragen stellen, die Antworten glauben oder nicht und dabei vermeiden, vorschnelle Ansichten zu entwickeln.
In dieser Phase behielten die Leute und die Dinge noch ihre klaren Konturen, blieben noch unzugänglich, anonym und unpersönlich.
In einem ganz bestimmten Augenblick und scheinbar ohne Grund kam die Sache ins Rollen. Die Personen verloren ihre scharfen Umrisse und bekamen gleichzeitig menschlichere Züge; sie wurden vor allem komplizierter, und dann hieß es aufpassen.
Kurz, er begann dann ihr Wesen zu sehen, tastete sich vor, fühlte sich dabei unbehaglich in der Vorstellung, dass es nur noch einer kleinen Anstrengung bedürfe, um klarzusehen und die Wahrheit ans Licht zu ziehen.
Mit den Händen in den Taschen und der Pfeife zwischen den Zähnen lief er langsam die staubige Straße entlang, die er nun schon kannte, wobei ihm eine ganz dumme Nebensächlichkeit auffiel, die aber vielleicht wichtig war. In Paris konnte man an jeder Ecke in ein öffentliches Verkehrsmittel einsteigen. Wie weit war La Bicoque vom Zentrum Etretats entfernt? Ungefähr einen Kilometer. Valentine hatte kein Telefon. Sie hatte kein Auto mehr. Wahrscheinlich fuhr sie auch nicht Fahrrad.
Für die alte Dame war es also mit einem ziemlichen Aufwand verbunden, andere Leute zu treffen, manchmal sah sie sicher tagelang niemand. Ihre nächste Nachbarin war Mademoiselle Seuret, die beinahe neunzig war und ihren Lehnstuhl wohl auch nicht mehr verließ.
Erledigte Valentine ihre Einkäufe selber? Hatte sie früher Rose damit beauftragt?
An den Hecken hingen große schwarze Beeren, aber er blieb nicht stehen, um welche zu pflücken und auch nicht, um sich aus den Zweigen Ruten zu schneiden. Schade, dass er aus dem Alter heraus war. Der Gedanke daran belustigte ihn. Dann dachte er an Charles, an dessen Bruder Theo und nahm sich vor, selber zu den Trochus zu gehen und ein Glas mit ihnen zu trinken. Ob man ihm eines anbieten würde?
Er stieß die grün angestrichene Gartentür auf und atmete den vollen Duft aller Blumen und Büsche im Garten ein. Er hörte ein gleichmäßiges Kratzen und bemerkte an der Ecke auf dem Gartenweg einen alten Mann, der die Erde um die Rosenstöcke hackte. Das musste Honoré, der Gärtner, sein, der dreimal wöchentlich bei Valentine arbeitete und auch bei Mademoiselle Seuret angestellt war. Der Mann richtete sich auf und betrachtete den fremden Besucher,
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