Maigret und die alte Dame
Fremden zu sehen.
»Lass ihn herein«, sagte der Vater schließlich.
Und während er sich den Mund am Ärmelaufschlag abwischte, stand er so langsam auf, dass es beinahe feierlich aussah. So als ob er den anderen, seinem Stall voll Kinder, sagen wollte:
>Habt keine Angst. Ich bin da, und es kann nichts passieren.<
Henri setzte sich nicht mehr hin, sondern blieb neben einem Eisenbett stehen, unter einem Farbdruck des Angelus von Milet.
»Sie sind bestimmt der Chef von dem, der schon hier war?«
»Ich bin Kommissar Maigret.«
»Und was wollen Sie noch von uns?«
Er hatte einen prächtigen Seemannskopf, wie ihn die Sonntagsmaler am liebsten haben, und auch zu Hause nahm er seine Mütze nie ab. In seinem blauen Pullover, in dem er unförmig aussah, schien er so breit wie lang zu sein.
»Ich bin dabei herauszufinden, wer den Mord begangen hat...«
»An meiner Tochter«, ergänzte Trochu, der damit be tonen wollte, dass es seine Tochter war, die nun tot war, und niemand anders.
»Genau. Ich bedaure, dass ich Sie deswegen störe, aber ich dachte nicht, dass Sie schon beim Abendessen sitzen.«
»Wann essen Sie abends? Sicher später als Leute, die um halb fünf früh aus dem Bett müssen.«
»Lassen Sie sich bitte nicht beim Essen stören.«
»Ich bin fertig.«
Die anderen aßen schweigend weiter, benahmen sich ziemlich steif und ließen Maigret nicht aus den Augen. Sie hörten genau zu, wenn ihr Vater etwas sagte.
Henri hatte sich eine Zigarette angezündet, vielleicht aus Trotz. Man hatte dem Kommissar noch keinen Stuhl angeboten, er wirkte riesig groß in dem Haus mit den niedrigen Decken, wo Würste von den Balken herunterhingen.
Im Zimmer standen zwei Betten, eines davon war ein Kinderbett. Durch eine offene Tür sah man in einem Raum noch drei weitere Betten, aber keinen Waschtisch; sie wuschen sich wohl alle draußen am Brunnen.
»Haben Sie die Sachen Ihrer Tochter mitgenommen?«
»Das war doch mein gutes Recht, oder?«
»Ich mache Ihnen auch keinen Vorwurf. Es würde mir vielleicht bei meiner Aufgabe helfen, wenn ich wüsste, was alles im Einzelnen dazu gehörte.«
Trochu wandte sich zu seiner Frau, deren Gesicht Maigret nun sah. Sie wirkte sehr jugendlich als Mutter einer so großen Familie und so erwachsener Kinder wie Henri und Rose. Sie war schlank, schwarz gekleidet und trug einen Anhänger mitten auf der Brust.
Sie sahen sich verwirrt an, und die Kinder rutschten auf der Bank hin und her.
»Wir haben sie schon verteilt.«
»Es sind also nicht mehr alle Gegenstände im Haus?«
»Jeanne, die in Le Havre arbeitet, nahm die Kleider und die Wäsche mit, die ihr passten. Die Schuhe hat sie hiergelassen, weil sie ihr zu klein waren.«
»Die habe ich!« sagte ein ungefähr vierzehnjähriges Mädchen mit dicken rötlichen Zöpfen.
»Mich interessieren weniger die Kleider als die kleinen Sachen. Waren Briefe dabei?«
Diesmal sahen die Eltern Henri an, und dieser hatte offenbar keine große Lust zu antworten. Maigret fragte noch einmal.
»Nein«, sagte dieser stockend.
»Kein Tagebuch, keine Aufzeichnungen?«
»Ich habe nur einen Kalender gefunden.«
»Was für einen Kalender?«
Henri holte ihn nun doch aus dem Zimmer nebenan. Maigret erinnerte sich, dass er, als er noch klein war und auf dem Land lebte, auch solche Kalender gesehen hatte. Primitiver Druck auf schlechtem Papier und naive Illustrationen. Er staunte, dass es so etwas noch gab. Für jeden Tag im Monat folgte eine Vorhersage. Man las zum Beispiel: 17. August: Melancholie. 18. August: Nichts unternehmen. Nicht reisen. 19. August: Der Mond ist fröhlich, aber Vorsicht am Abend. Er lächelte nicht, als er langsam das kleine, ziemlich abgegriffene Buch durchblätterte. Allerdings war für den September nichts Besonderes darin angegeben, auch nicht für das Ende des Monats vorher.
»Haben Sie noch andere Schriftstücke gefunden?«
Da stand die Mutter auf und wollte etwas sagen; man spürte förmlich, wie sie alle geschlossen hinter ihr standen und der Antwort zustimmten, auf die sie warteten.
»Glauben Sie wirklich, dass Sie hierherkommen müssen, um solche Fragen zu stellen? Ich möchte gern, dass man mir endlich sagt, ob meine Tochter gestorben ist, ja oder nein. Wenn sie tot ist, müssen sie nicht uns ausfragen, sondern die anderen, die man ungeschoren lässt.«
So etwas wie ein Aufatmen lag in der Luft. Fast hätte die Vierzehnjährige in die Hände geklatscht.
»Weil wir arme Leute sind«, redete sie weiter, »weil es
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