Maigret und die alte Dame
Maigret und die alte Dame so gut gelaunt, dass es nicht weiter überrascht hätte, wenn sie sich gegenseitig auf die Schulter geklopft hätten.
Ob Valentine auch noch zum Lachen zumute war, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte? Oder wurde sie, als sie wieder mit der mürrischen Madame Leroy allein war, ernst, wie man es zuweilen nach einem Lachanfall wird?
Maigret jedenfalls ging nachdenklich und mit etwas schwerfälligen Schritten in die Stadt zurück und wollte Dr. Jolly aufsuchen. Auf einmal stand Castaing wie aus dem Boden gewachsen vor ihm, aber der Boden stellte sich als Kneipe heraus, dem strategischen Stützpunkt, wo der Inspektor gewartet und solange Karten gespielt hatte.
»Ich habe mit dem Doktor gesprochen, Chef. Rose war nicht krank, sie strotzte nur so vor Gesundheit. Trotzdem ging sie von Zeit zu Zeit zu ihm, und er verschrieb ihr harmlose Medikamente, um ihr eine Freude zu machen.«
»Was waren...?«
»Hormonpräparate. Sie wollte unbedingt welche haben und redete nur noch von ihren Drüsen.«
Castaing lief neben dem Kommissar her und fragte verwundert: »Sie gehen noch einmal hin?«
»Ich habe nur eine Frage an ihn. Du kannst auf mich warten.«
Es war der erste Tag, an dem er den Inspektor duzte, der nicht zu seinem Dienstbereich gehörte, und das war ein Signal. Sie kamen an ein großes, viereckiges Haus mit efeuberankten Mauern, das in einem parkähnlichen Garten stand.
»Hier wohnt er«, sagte Castaing. »Aber seine Sprechstunde hält er in dem Anbau links.«
Der Anbau ähnelte einer Garage. Sicher war Madame Jolly eine Frau, die Kranke und den Geruch von Medikamenten hasste und das alles nicht im Hause haben wollte.
»Sehen Sie zu, dass er Sie gleich sieht, sobald er die Tür öffnet. Sonst können Sie stundenlang warten.«
Die Wände waren weiß gekalkt. Auf den Bänken rundherum warteten Frauen, Kinder, alte Leute, insgesamt etwa zwölf Personen.
Ein Junge hatte einen dicken Verband um den Kopf, eine Frau mit einem Schal um die Schultern versuchte vergeblich, ein Baby auf ihrem Arm zu beruhigen. Alle Blicke richteten sich auf eine Tür im Hintergrund, hinter der Stimmengemurmel zu hören war, und Maigret hatte Glück, dass die Tür aufging, kurz nachdem er hereingekommen war. Eine dicke Bäuerin kam heraus, der Doktor schaute im Zimmer herum, und sein Blick fiel auf den Kommissar.
»Kommen Sie doch bitte herein. Ich komme gleich nach.«
Er zählte die Patienten, trennte die Spreu vom Weizen, das heißt, er sagte zu drei oder vier Leuten:
»Heute kann ich Sie nicht mehr behandeln. Kommen Sie übermorgen zur gleichen Zeit.« Er machte die Tür wieder zu.
»Gehen wir hinüber ins Haus. Sie möchten sicher etwas trinken.«
»Ich habe nur eine Frage an Sie.«
»Aber ich freue mich, Sie zu sehen. Ich lasse Sie so schnell nicht wieder gehen.«
Er öffnete eine Seitentür und führte den Kommissar durch den Garten in das große viereckige Haus.
»Schade, dass meine Frau ausgerechnet heute in Le Havre ist. Sie hätte sich sehr gefreut, Sie kennenzulernen.«
Das Haus war teuer und behaglich eingerichtet, nur ein wenig dunkel wegen der großen Bäume im Garten.
»Eben war der Inspektor hier, und ich sagte ihm, Rose hätte hundert Jahre alt werden können. Sie war überhaupt nicht krank. Ich habe selten eine so kerngesunde Familie wie ihre behandelt. Ich wünschte, Sie hätten ihren Körper sehen können.«
»War sie nicht schwanger?«
»Wie kommen Sie darauf? Auf die Frage wäre ich zuallerletzt gekommen. Sie war erst vor kurzem da und hat nichts dergleichen gesagt. Vor ungefähr drei Monaten habe ich sie gründlich untersucht, und ich könnte beinahe schwören, dass sie bis zu diesem Zeitpunkt noch keine sexuellen Beziehungen hatte. Was darf ich Ihnen anbieten?«
»Nichts. Ich komme gerade von Valentine, wo ich mehr trinken musste, als mir lieb war.«
»Wie geht es ihr? Sie ist auch eine, die kerngesund ist und keinen Arzt braucht. Eine bezaubernde Frau, nicht? Ich habe sie vor ihrer zweiten Ehe kennengelemt, das heißt sogar schon vor der ersten. Ich habe sie auch entbunden.«
»Halten Sie sie für völlig normal?«
»Sie meinen geistig? Weil sie manchmal etwas sonderbar ist? Unterschätzen Sie solche Leute nicht, Kommissar! Sie sind im allgemeinen klar bei Verstand! Sie weiß, was sie macht, lassen Sie nur! Sie hat es schon immer gewusst. Sie hängt an ihrem bisschen Leben, an ihrem kleinen Häuschen, ihren kleinen Annehmlichkeiten. Kann man es ihr übelnehmen?
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