Maigret und die alte Dame
Zufällig gab es eine etwa 50 Meter vom >Hôtel de la Plage< entfernt, von der aus man, wenn man sich vorbeugte, Theos Fenster im Blick hatte.
Castaing hatte geglaubt, Maigret wolle mit ihm reden und ihm Anweisungen geben.
»Ich möchte einen Kaffee mit Rum trinken«, gestand Maigret.
»Es ist heute Abend nicht gerade warm.«
»Haben Sie schon zu Abend gegessen?«
»Eigentlich nicht.«
»Gehen Sie nicht essen?«
»Nicht jetzt.«
Er war nicht betrunken, doch hatte er seit heute Morgen eine ganze Menge getrunken, bei diesem und jenem, und vielleicht wirkte er deswegen so schwerfällig.
»Vielleicht geht er gerade ins Bett«, meinte er, als er zum Fenster hinaufschaute.
»Soll ich trotzdem hier die Stellung halten?«
»Du bleibst hier, mein Lieber. Wenn du den Hoteleingang nicht aus dem Auge verlierst, der wichtiger ist als das Fenster, kannst du hier sitzen bleiben. Ich glaube, ich gehe mal kurz zu Valentine und sage ihr guten Abend.«
Dennoch blieb er gedankenverloren eine Viertelstunde sitzen, ohne etwas zu sagen, schaute ins Leere. Endlich erhob er sich seufzend und ging, die Pfeife zwischen den Zähnen und die Hände in den Taschen, durch die leeren Straßen. Castaing hörte, wie sich seine Schritte allmählich entfernten.
Es war kurz vor zehn Uhr, als Maigret vor der Gartentür von La Bicoque stand. Über der Straße leuchtete der Mond, der zunahm und einen großen Hof hatte. Er war niemand begegnet. Kein Hund hatte gebellt, keine Katze war mit einem Satz in die Hecke gesprungen. Von irgendeinem Tümpel hörte man lediglich das gleichmäßige Quaken der Frösche.
Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um zu sehen, ob die alte Dame noch Licht hatte. Er glaubte, im Erdgeschoß Licht zu sehen, und ging auf die offene Gartentür zu.
Im Garten war es feucht, es roch stark nach Humus. Als er auf dem Weg weiterging, stieß er an einige Zweige, das Rascheln der Blätter hörte man sicher drinnen im Haus.
Er hatte den gepflasterten Hof nahe am Haus erreicht, sah den erleuchteten Salon und Valentine, die aus dem Sessel aufstand und einen Augenblick unbeweglich stehenblieb. Sie lauschte angestrengt, bevor sie zur Wand ging und das Licht ausknipste, womit er am wenigsten gerechnet hatte.
Ausgerechnet jetzt musste er niesen. Die Fensterläden wurden aufgemacht, er hörte es am Quietschen.
»Wer ist da?«
»Ich bin’s, Maigret.«
Ein kurzes, etwas nervöses Lachen war zu hören, wie von jemand, der trotz allem Angst gehabt hat.
»Entschuldigen Sie, ich mache das Licht gleich wieder an.«
Und leiser, wie zu sich selbst:
»Zu dumm, ich kann den Schalter nicht finden. Ach! Da ist er ja...«
Sie hatte offenbar zwei Schalter angeknipst, denn jetzt war nicht nur der Salon erleuchtet, auch im Garten brannte eine Lampe gerade über dem Kopf des Kommissars.
»Ich mache Ihnen auf.«
Sie hatte die gleichen Sachen an wie immer, und auf einem kleinen Tischchen vor dem Sessel, in dem sie saß, bevor er kam, waren Karten für eine Patience ausgebreitet.
Sie ging eilig hin und her in dem leeren Haus, von einem Zimmer ins andere, drehte da einen Schlüssel herum, schob dort einen Riegel auf.
»Sie sehen, ich bin nicht so tapfer, wie ich vorgebe, und schließe mich ein. Ich habe Sie nicht erwartet.«
Sie wollte ihm keine Fragen stellen, aber sie war beunruhigt.
»Haben Sie einen Augenblick Zeit? Kommen Sie herein und setzen Sie sich.« Und als er das Kartenspiel anschaute:
»Man muss sich auch allein unterhalten können, nicht wahr? Was kann ich Ihnen anbieten?«
»Wissen Sie, seit ich in Etretat bin, trinke ich nur noch von morgens bis abends. Ihr Stiefsohn Charles kommt heute Morgen und bringt mich dazu, mehrere Picongrenadine zu trinken. Theo kommt und spendiert eine Runde. Treffe ich den Inspektor, setzen wir uns in ein Café, um zu reden. Ich komme zu Ihnen, und die Calvadosflasche steht automatisch auf dem Tisch. Der Doktor ist ebenfalls ein gastfreundlicher Mensch. Die Trochu haben mir Apfelwein angeboten.
»Wurden Sie freundlich empfangen?«
»Es ging.«
»Haben sie Ihnen irgendetwas Interessantes sagen können?«
»Vielleicht. Vor der Aufklärung eines Falls ist es schwierig, Interessantes und Uninteressantes auseinanderzuhalten. Hatten Sie Besuch, seit ich das letzte Mal hier war?«
»Niemand. Aber ich habe einen Besuch gemacht. Ich habe abends das alte Fräulein Seuret besucht. Sie ist meine Nachbarin. Wenn ich noch jünger wäre und über die Hecke springen könnte, wäre ich gleich bei ihr
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