Maigret und die Tänzerin Arlette
großen Hause allein.«
»Glauben Sie, daß sie auch die Zeitung gelesen hat?«
»Bestimmt. Das Foto war auf der ersten Seite unseres Lokalblatts zu sehen, das jeder in der Stadt hält.«
»Wundert es Sie nicht, daß sie sich nicht bei uns gemeldet hat?«
»Nein, Kommissar, das wird sie keinesfalls tun. Sie ist zu stolz dazu. Ich wette sogar, wenn man ihr die Leiche zeigt, würde sie schwören, das sei nicht ihre Tochter. Ich weiß genau, daß sie seit vier Jahren nichts mehr von ihr gehört hat. Niemand in Lisieux hat auch nur eine Zeile von ihr bekommen. Aber nicht wegen ihrer Tochter ist sie so verbittert, sondern wegen all der Dinge, die die Leute darüber denken.«
»Wissen Sie nicht, unter welchen Umständen das junge Mädchen das Haus ihrer Mutter verlassen hat?«
»Ich könnte Ihnen darauf antworten, daß kein Mensch es bei dieser Frau aushält. Aber es ist da noch etwas anderes. Ich weiß nicht, von wem das Mädchen das hatte. Von meinem Bruder jedenfalls nicht, das wird Ihnen jeder bestätigen können. Mit fünfzehn Jahren ist sie jedenfalls aus dem Kloster gejagt worden. Und wenn ich dann manchmal abends ausgehen mußte, wagte ich nicht zu den dunklen Haustüren hinzublicken, weil ich immer fürchtete, sie dort mit einem Mann zu sehen. Sogar mit verheirateten Männern hat sie sich herumgetrieben. Meine Schwägerin wollte sie damit bändigen, daß sie sie einsperrte, aber das ist nie eine gute Methode gewesen, und es hat sie nur noch mehr gereizt. Man erzählt sich in der Stadt sogar, daß sie eines Abends ohne Schuhe aus dem Fenster gestiegen ist und man sie so auf der Straße gesehen hat.«
»Gibt es etwas, woran Sie sie absolut wiedererkennen würden?«
»Ja, Monsieur Maigret.«
»Und was ist das?«
»Ich habe leider selber keine Kinder. Mein Mann ist nie sehr stark gewesen und jetzt schon seit Jahren krank. Als meine Nichte noch klein war, lebte ich mit ihrer Mutter noch in Frieden. Als Schwägerin habe ich oft das Baby gehütet, und ich erinnere mich, daß sie unter der linken Fußsohle ein Muttermal hatte, einen kleinen lila Fleck, der nie weggegangen ist.«
Maigret nahm den Telefonhörer ab und rief das Gerichtsärztliche Institut an.
»Hallo! Hier ist die Kriminalpolizei. Sehen Sie sich doch bitte mal den linken Fuß der jungen Frau an, die gestern bei Ihnen eingeliefert worden ist… Ja… Ich bleibe am Apparat… Sagen Sie mir, ob Sie da etwas Besonderes bemerken…«
Sie wartete mit der vollendeten Sicherheit einer Frau, die nie in die Versuchung gekommen ist, an sich selbst zu zweifeln, blieb kerzengerade auf ihrem Stuhl sitzen und hatte dabei die Hände um das silberne Schloß ihrer Handtasche gefaltet. Maigret sah sie deutlich vor sich, wie sie genau in der gleichen Haltung in der Kirche saß und mit derselben harten und abweisenden Miene einer Predigt lauschte.
»Hallo?… Ja… Das ist alles… Ich danke Ihnen… Es wird sicher gleich jemand zu Ihnen kommen, der die Leiche identifizieren wird.«
Er wandte sich wieder der Dame aus Lisieux zu.
»Es wird Ihnen doch wohl nicht allzu schrecklich sein?«
»Es ist meine Pflicht«, antwortete sie nur.
Er hatte nicht den Mut, den armen Lognon noch länger warten zu lassen, und schon gar nicht, seine Besucherin ins Leichenschauhaus zu begleiten. Er blickte ins Büro nebenan, um zu sehen, wen er dorthin schicken konnte.
»Frei, Lucas?«
»Ich bin gerade mit meinem Bericht über den Fall in Javel fertig.«
»Willst du Madame ins Gerichtsärztliche Institut begleiten?«
Sie war größer als der Inspektor. Und wie sie da kühl und majestätisch vor ihm durch den Flur schritt, sah es fast so aus, als führte sie ihn an der Leine.
SECHSTES KAPITEL
Als Lognon, seinen Gefangenen vor sich her schiebend, hereinkam, sah Maigret, daß der junge Mann sich mühsam mit einem schweren, notdürftig geflickten Ziehharmonikakoffer aus braunem Segeltuch abschleppte. Sein Haar war so lang, daß es ihm tief in den Nacken herabfiel.
Der Kommissar öffnete die Tür zum Nebenzimmer, ließ den jungen Mann eintreten und rief, auf den Koffer deutend, den Inspektoren zu: »Seht mal nach, was darin ist.« Und nach kurzem überlegen setzte er hinzu: »Er soll auch seine Hose herunterziehen, damit man feststellen kann, ob er sich spritzt.«
Nachdem er nun mit dem mürrischen Lognon allein war, musterte er ihn wohlwollend. Er verdachte ihm sein ewiges Mißgestimmtsein nicht, denn er wußte, daß seine Frau ihm das Leben nicht gerade angenehm
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