Maigret und die Tänzerin Arlette
entdeckt.
Schon seit einer halben Stunde wartete er hier mit einem merkwürdigen jungen Mann, der langes Haar und ein bleiches Gesicht hatte und fortwährend vor sich hinstierte, als ob er im nächsten Augenblick: ohnmächtig würde.
Natürlich – so jedenfalls dachte Lognon – nahm Maigret nicht die geringste Notiz von ihm, ließ ihn hier einfach schmoren, fragte ihn nicht einmal, wer dieser Mann sei, auch nicht, ob er etwas ermittelt habe. Statt dessen murmelte der Kommissar bloß: »Noch einen Augenblick, Lognon.«
Er ließ die Dame vorangehen, öffnete ihr die Tür zu seinem Büro und trat zur Seite, um ihr den Vortritt zu lassen.
»Wollen Sie sich bitte setzen.«
Maigret mußte rasch merken, daß er sich getäuscht hatte. Als er das strenge und würdige Aussehen seiner Besucherin, die offensichtlich in Trauerkleidung war und die entsprechende Miene aufgesetzt hatte, bemerkte, hatte er an das Gespräch mit Rosa denken müssen. Also hatte er vermutet, Arlettes Mutter, die in den Zeitungen das Bild ihrer Tochter gesehen hatte, sei nun endlich gekommen. Und ihre ersten Worte hatten ihn in dieser Vermutung sogar noch bestärkt.
»Ich wohne in Lisieux und bin mit dem ersten Zug heute früh hierhergefahren.«
Lisieux liegt nicht weit ab vom Meer, und soweit er sich erinnerte, gab es dort ein Kloster.
»Ich habe gestern abend das Bild in der Zeitung gesehen und sie sofort darauf erkannt.«
Ihr Gesicht nahm einen noch schmerzlicheren Ausdruck an, wohl weil sie fand, daß sich das so gehörte, aber sie war trotzdem nicht im geringsten traurig. In ihren kleinen schwarzen Augen sah Maigret sogar ein triumphierendes Funkeln.
»In vier Jahren hat sich das Mädchen natürlich sehr verändert, und vor allem ihre Frisur gibt ihr ein anderes Aussehen. Trotzdem bin ich ganz sicher, daß sie es ist. Ich wäre gern zu meiner Schwägerin gegangen, aber wir sprechen schon seit Jahren kein Wort mehr miteinander, und ich sehe nicht ein, weshalb ich den ersten Schritt tun soll. Verstehen Sie?«
»Ich verstehe«, sagte Maigret sehr ernst, während er an seiner Pfeife zog.
»Ihren Namen hat sie selbstverständlich auch geändert, es ist ja nur natürlich, daß man das tut, wenn man solch ein Leben führt. Es hat mich jedoch sehr verwundert, daß sie sich Arlette nennen ließ und daß sie einen Personalausweis auf den Namen Jeanne Leleut hatte. Das Seltsamste dabei ist, daß ich die Leleuts gekannt habe.«
Er wartete geduldig und blickte dabei in das Schneegestöber.
»Ich habe jedenfalls die Fotografie drei verschiedenen Menschen gezeigt, durchaus ernstzunehmenden Menschen nebenbei, die Anne-Marie gut gekannt haben, und alle drei haben es mir bestätigt. Sie ist es tatsächlich, die Tochter meines Bruders und meiner Schwägerin.«
»Lebt Ihr Bruder noch?«
»Das Kind war erst zwei Jahre alt, als er starb. Er ist bei einem Eisenbahnunglück ums Leben gekommen. Vielleicht erinnern Sie sich noch an die entsetzliche Katastrophe bei Rouen. Ich hatte ihm gesagt…«
»Wohnt Ihre Schwägerin in Lisieux?«
»Sie ist nie von dort fortgekommen. Aber wie ich bereits sagte, wir sehen uns nicht mehr. Es würde zu weit führen, wenn ich Ihnen das alles erklären wollte. Es gibt eben Charaktere, mit denen man sich einfach nicht verständigen kann. Also lassen wir das.«
»Lassen wir das«, wiederholte er. Dann fragte er: »Wie ist der Name Ihres Bruders?«
»Trochain. Gaston Trochain. Wir sind eine große Familie, wohl die größte in Lisieux und eine der ältesten. Ich weiß nicht, ob Sie die Stadt kennen?«
»Kaum, Madame, ich bin nur ein paarmal auf der Durchreise in Lisieux gewesen.«
»Aber da haben Sie bestimmt auf dem Platz das Denkmal des Generals Trochain gesehen. Das ist unser Urgroßvater. Und wenn Sie auf der Straße nach Caen fahren, sehen Sie rechts ein Schloß mit einem Schieferdach. Das ist das Schloß unserer Familie. Heute freilich gehört es uns nicht mehr.
Nach dem Kriege von 1914 haben es Neureiche gekauft. Mein Bruder hatte aber trotzdem eine schöne Stellung.«
»Ist es indiskret, wenn ich frage, was er war?«
»Er war Forstmeister. Meine Schwägerin dagegen ist die Tochter eines Eisenwarenhändlers, der es zu einem kleinen Vermögen gebracht hatte, und sie hat ein Dutzend Häuser und zwei Bauernhöfe geerbt. Als mein Bruder noch lebte, lud man sie nur seinetwegen ein, aber seit sie Witwe ist, verkehrt niemand mehr mit ihr, weil sie nicht zur Gesellschaft gehört, und so ist sie sozusagen immer in ihrem
Weitere Kostenlose Bücher