Maigret und die Tänzerin Arlette
zufällig auf eine Spur gestoßen und brannte nun darauf, sie zu verfolgen, bevor andere sie gewittert hatten.
Maigret kannte das Viertel ebenfalls genau, und er konnte sich denken, wie sich die Nacht für Philippe und den Inspektor abgespielt hatte. Um zu Geld zu kommen, hatte der junge Mann bestimmt all seine Bekannten aufgesucht, die man vor allem unter den Süchtigen suchen mußte. Zweifellos hatte er sich an Mädchen gewandt, die vor verdächtigen Hotels Männer ansprechen, an Kellner, an Schlepper von Nachtlokalen. Nachdem dann kein Mensch mehr auf der Straße war, hatte er andere Heruntergekommene seiner Art, die ebenso jämmerlich lebten wie er und auch nicht einen Heller besaßen, aus ihren schmutzigen Buden herausgeklingelt.
Hatte er wenigstens Rauschgift für sich auftreiben können? Andernfalls würde er gleich zusammenklappen.
»Kann ich jetzt gehen?«
»Ich danke dir. Du hast gut gearbeitet.«
»Ich will aber nicht behaupten, daß er die Alte ermordet hat.«
»Das behaupte ich auch nicht.«
»Werden Sie ihn einsperren?«
»Möglicherweise.«
Lognon ging, und Maigret begab sich in das Büro der Inspektoren. Auf dem Fußboden stand der geöffnete Koffer. Philippe, dessen weiches Gesicht wachsweiß war, hob den Arm, sobald sich jemand nur bewegte, als fürchtete er, geschlagen zu werden. Trotzdem hatte keiner Mitleid mit ihm, im Gegenteil, alle empfanden den gleichen Ekel vor ihm.
In dem Koffer fand man nur gebrauchte Wäsche, ein Paar Schuhe zum Wechseln, Medizinflaschen – Maigret roch an einer, um sich zu vergewissern, daß es nicht Heroin war – und einige Hefte.
Er blätterte in den Heften. Es waren Gedichte, genauer gesagt, zusammenhanglose Sätze, ein lyrisches Gestammel, das er offensichtlich unter der Wirkung des Rauschgifts zu Papier gebracht hatte.
»Komm«, sagte Maigret.
Und Philippe ging ängstlich vor ihm her, wie jemand, der jeden Augenblick einen Tritt in den Hintern erwartet. Er schien das schon öfter erlebt zu haben. Selbst auf dem Montmartre gibt es Leute, die Typen seiner Art nicht sehen können, ohne ihm einen Tritt zu versetzen.
Maigret setzte sich, ohne ihn aufzufordern, Platz zu nehmen, und so blieb der junge Mann stehen, wobei er unaufhörlich heftig schnüffelte.
»War die Gräfin deine Geliebte?«
»Sie war meine Gönnerin.«
Er sagte das mit der typisch hohen Stimme eines Schwulen.
»Soll das heißen, daß du nicht mit ihr geschlafen hast?«
»Sie interessierte sich für meine Schöpfungen.«
»Und sie hat dir Geld gegeben?«
»Sie hat mich unterstützt, damit ich leben konnte.«
»Hat sie dir viel gegeben?«
»Sie war nicht reich.«
Man brauchte nur seinen gut geschnittenen, aber sehr abgenutzten, blaukarierten Anzug zu betrachten. Seine Schuhe hatte ihm wahrscheinlich auch irgend jemand gegeben, denn es waren Lackschuhe, die besser zu einem Smoking als zu dem schmutzigen Regenmantel, den er anhatte, gepaßt hätten.
»Warum hast du versucht, nach Belgien zu flüchten?«
Er antwortete nicht sofort, sondern blickte auf die Tür zum Nebenzimmer, als fürchtete er, daß Maigret zwei kräftige Inspektoren hereinrufen würde, die ihm dann eine gehörige Tracht Prügel verabreichen könnten. Vielleicht war ihm das bei früheren Verhaftungen schon einmal passiert.
»Ich habe nichts verbrochen. Ich verstehe nicht, warum man mich festgenommen hat.«
»Bist du auf Männer aus?«
Wie alle Schwulen war er im Grunde stolz darauf, und sein Mund mit den auffallend roten Lippen verzog sich unwillkürlich zu einem Lächeln. Am Ende machte es ihm noch Vergnügen, von richtigen Männern verprügelt zu werden.
»Willst du nicht antworten?«
»Ich habe Freunde.«
»Aber auch Freundinnen?«
»Das ist nicht dasselbe.«
»Wenn ich richtig verstehe, hast du die Freunde fürs Vergnügen und die alten Damen fürs Materielle.«
»Sie schätzen meine Gesellschaft.«
»Kennst du viele?«
»Drei oder vier.«
»Sind sie alle deine Gönnerinnen?«
Maigret fiel es nicht leicht, von diesen Dingen in ruhigem Ton zu reden und in dem jungen Mann seinen Geschlechtsgenossen zu sehen.
»Sie unterstützen mich hin und wieder.«
»Spritzen sie sich alle?«
Statt eine Antwort zu geben, wandte er den Kopf ab, und Maigret wurde jetzt wirklich wütend. Er stand zwar nicht auf, packte ihn nicht an dem speckigen Kragen seines Regenmantels, um ihn kräftig zu schütteln, aber seine Stimme nahm einen drohenden Ton an.
»Ich will dir mal was sagen. Ich habe heute nicht viel Geduld,
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