Maigret und die Unbekannte
Sie wissen nicht, wer sie war, woher sie kam, was sie machte, mit wem sie verkehrte…«
»Nein.«
»Mochten Sie sie nicht?«
»Ich mag Leute nicht, die nicht mehr Geld haben als ich, aber sich für Gott weiß was halten.«
»Glauben Sie, daß sie arm war?«
»Ich habe sie immer im gleichen Kleid und im gleichen Mantel gesehen.«
»Sind Dienstmädchen im Hause?«
»Warum fragen Sie mich das? Drei. Die Mieter im ersten Stock haben eins, die im zweiten rechts und…«
»Ist eine von Ihnen noch jung und erst vor kurzem vom Lande hergekommen?«
»Sie meinen sicher Rose.«
»Welche von den dreien ist das?«
»Die aus dem zweiten Stock. Die Larchers, die schon zwei Kinder hatten, haben vor drei Monaten noch ein drittes bekommen, und da Madame Larcher noch sehr elend ist, hat sie sich ein junges Mädchen aus der Normandie beschafft.«
»Haben die Larchers Telefon?«
»Ja. Der Mann hat eine gute Stellung in einer Versicherungsgesellschaft. Sie haben sich vor kurzem einen Wagen gekauft.«
»Ich danke Ihnen.«
»Wenn es möglich wäre, daß der Wirt nicht erfährt, daß…«
»Noch eine Frage: Als gestern das Foto des jungen Mädchens in der Zeitung war, haben Sie sie da gleich erkannt?«
Sie zögerte und log.
»Ich war nicht sicher. Wissen Sie, das erste Foto…«
»Ist Madame Cremieux zu Ihnen gekommen?«
Sie wurde rot.
»Ja, als sie von ihren Einkäufen zurückkam. Sie hat mir gesagt, die Männer von der Polizei würden so gut bezahlt, daß ihnen nicht andere die Arbeit abzunehmen brauchten. Ich habe begriffen, wie sie das meinte. Als ich das zweite Bild, dies hier, sah, wollte ich Sie eigentlich anrufen, aber ich habe es dann doch nicht getan, und wenn ich’s mir so überlege, bin ich froh, daß Sie gekommen sind, denn das nimmt mir eine schwere Last von der Seele.«
Das Haus hatte einen Fahrstuhl, und Maigret und Janvier fuhren zum zweiten Stock hinauf. Hinter der Tür rechts hörte man Kinderstimmen, und dann rief jemand, dessen Stimme Maigret sofort wiedererkannte:
»Jean-Paul! Jean-Paul! Willst du wohl deine kleine Schwester in Ruhe lassen!«
Er läutete an der Tür gegenüber. Man hörte leise, schlurfende Schritte, und dann fragte jemand durch die Tür:
»Wer ist da?«
»Madame Cremieux?«
»Was wünschen Sie?«
»Polizei.«
Ein ziemlich langes Schweigen und schließlich ein Flüstern:
»Einen Augenblick.«
Sie verschwand, gewiß, um sich ein bißchen zurechtzumachen. Als sie wieder an die Tür kam, klangen ihre Schritte anders als vorher: bestimmt hatte sie an Stelle der Pantoffeln Schuhe angezogen.
Höchst widerwillig öffnete sie und blickte die beiden mit bösen Augen an.
»Kommen Sie herein. Ich bin aber noch nicht mit dem Aufräumen fertig.«
Sie hatte trotzdem ein feines schwarzes Kleid an und war sorgfältig frisiert. Sie war fünfundsechzig bis siebzig Jahre alt, klein und dürr, aber noch erstaunlich rüstig.
»Haben Sie einen Ausweis?«
Maigret zeigte ihr seine Marke, die sie genau betrachtete.
»Sie sind der Kommissar Maigret?«
Sie ließ die beiden in einen ziemlich großen Salon eintreten, der aber mit Möbeln und Nippes so vollgestopft war, daß man sich kaum in ihm bewegen konnte.
»Setzen Sie sich. Was wünschen Sie?«
Sie selber setzte sich würdevoll, ohne indessen verhindern zu können, daß sich ihre Finger nervös verkrampften.
»Es betrifft Ihre Mieterin.«
»Ich habe keine Mieterin. Wenn ich hin und wieder mal jemanden für eine Nacht aufnehme…«
»Wir wissen Bescheid, Madame Cremieux.«
Sie verlor die Ruhe nicht, warf dem Kommissar jedoch einen durchbohrenden Blick zu.
»Worüber wissen Sie Bescheid?«
»Über alles. Wir kommen nicht vom Finanzministerium, und es geht uns nichts an, welche Einnahmen Sie angeben.«
In dem Zimmer lag keine Zeitung. Maigret zog eins der Fotos der Unbekannten aus der Tasche.
»Kennen Sie sie?«
»Sie hat ein paar Tage bei mir gewohnt.«
»Ein paar Tage?«
»Nun, sagen wir, ein paar Wochen.«
»Na, sagen wir lieber, nicht wahr, zweieinhalb Monate.«
»Das kann sein. In meinem Alter, wissen Sie, vergeht die Zeit so schnell.«
»Wie heißt sie?«
»Luise Laboine.«
»Ist das der Name, der auf ihrem Personalausweis steht?«
»Ich habe ihren Personalausweis nicht gesehen. Es ist der Name, den sie mir angegeben hat, als sie sich hier vorstellte.«
»Sie wissen also nicht, ob es ihr wirklicher Name ist?«
»Ich hatte keinen Grund, mißtrauisch zu sein.«
»Hat sie Ihre Annonce gelesen?«
»Hat Ihnen die
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