Maigret und die Unbekannte
ein Mädchen wie Luise hat sich nicht leicht von ihrer Freundin getrennt. Leute, die sich an andere hängen und sich unter Betten verstecken, lassen sich durch nichts abschütteln. Und der Santoni ist ja wirklich ein schwerreicher Mann…«
»Sie haben also Ihre Nichte seit drei Jahren nicht gesehen?«
»Seit etwas mehr als drei Jahren. Im letzten Jahr im Juli allerdings einmal im Zug. Es war an der Gare Saint-Lazare. Ich fuhr für einen Tag nach Mantes-la-Jolie. Es war eine Bullenhitze. Ich hatte Urlaub und wollte einmal aus der Stadt heraus. Auf dem Nebengleis stand ein Luxuszug, und man sagte mir, er fahre nach Deauville. In dem Augenblick, da sich mein Zug in Bewegung setzte, habe ich Janine in einem Abteil bemerkt. Sie hat mit dem Finger auf die Person gezeigt, die neben ihr saß, und mich ironisch angelächelt.«
»War sie mit einer Frau zusammen?«
»Das habe ich nicht sehen können. Ich hatte den Eindruck, daß sie gut gekleidet war, und der Zug hatte ja auch nur erste Klasse.«
Wie gewöhnlich hatte Janvier Notizen gemacht, aber nicht viele, denn dieses Geschwätz ließ sich in wenigen Worten zusammenfassen.
»Wußten Sie, als Ihre Nichte noch hier wohnte, nicht, mit wem sie verkehrte?«
»Nach dem, was sie sagte, verkehrte sie mit niemandem. Aber es ist schwer, einem jungen Mädchen zu trauen, das fremde Leute unter seinem Bett versteckt.«
»Ich danke Ihnen, Mademoiselle Pore.«
»Ist das alles, was Sie wissen möchten?«
»Sofern Sie mir nicht noch etwas Wichtiges zu sagen haben.«
»Ich wüßte nicht. Nein. Wenn mir noch etwas einfallen sollte…«
Mit Bedauern sah sie die drei sich zur Tür wenden. Sie hätte gern noch mehr geredet. Lognon ließ Maigret vorgehen, und Janvier ging als letzter hinaus.
Als sie wieder auf der Straße waren, wußte der Kommissar nicht recht, was er zu Lognon sagen sollte.
»Entschuldigen Sie, mein Lieber. Wenn ich geahnt hätte, daß Sie da waren…«
»Das macht nichts.«
»Sie haben gut gearbeitet. Wahrscheinlich werden wir jetzt alles sehr schnell aufklären können.«
»Bedeutet das, daß Sie mich nicht mehr brauchen?«
»Das habe ich damit nicht gesagt!«
Luciens Frau beobachtete sie durch das Schaufenster ihrer Kräuterhandlung.
»Im Augenblick habe ich keinen besonderen Auftrag für Sie. Vielleicht könnten Sie sich jetzt einmal etwas ausruhen und etwas gegen Ihre Bronchitis tun.«
»Es ist nur eine Erkältung. Aber es ist sehr freundlich von Ihnen.«
»Soll ich Sie irgendwo absetzen?«
»Nein, ich nehme die Metro.«
Er wollte durchaus den Unterschied betonen zwischen jenen, die im Wagen fuhren, und ihm, der sich zur Metro begab, in der er jetzt um sechs Uhr, in die Menge eingekeilt, würde stehen müssen.
»Also gute Besserung. Wenn Sie etwas Neues erfahren, rufen Sie mich an. Ich werde Sie ebenfalls auf dem laufenden halten.«
Als er mit Janvier allein im Auto saß, seufzte Maigret:
»Armer Lognon! Ich hätte viel darum gegeben, erst anzukommen, nachdem er wieder fort war.«
»Fahren Sie zum Quai zurück?«
»Nein, setz mich bei mir ab.«
Es war ganz in der Nähe. Sie hatten keine Zeit, über das zu sprechen, was sie eben erfahren hatten. Beide dachten sie sicherlich an das sechzehnjährige Mädchen, das seiner Mutter ausgerissen war und sich monatelang Tag für Tag unter einem Bett hatte verstecken müssen.
Die Witwe Cremieux hatte gesagt, sie sei hochmütig gewesen, so hochmütig, daß sie nicht einmal mit jemandem gesprochen habe. Rose, das Mädchen der Larchers, hatte sie stundenlang ganz allein auf einer Bank am Square de la Trinité sitzen sehen. Ganz allein war sie zweimal in Mademoiselle Irenes Geschäft gegangen. Ganz allein hatte sie sich ins Romeo begeben, ganz allein war sie dort wieder herausgekommen und hatte auf den Zuruf des Taxichauffeurs nur mit einem Kopfschütteln reagiert, jenes Taxichauffeurs, der sie dann später im Regen über die Place Saint-Augustin und zum Faubourg Saint-Honoré gehen sah.
Von da an verlor sich ihre Spur, bis man sie tot auf dem feuchten Pflaster der Place Vintimille gefunden hatte.
Da hatte sie das Samtcape nicht mehr an und auch die Silbertasche nicht mehr bei sich, und es fehlte einer ihrer Schuhe mit den hohen Absätzen.
»Bis morgen, Chef.«
»Bis morgen, mein lieber Jan vier.«
»Haben Sie noch irgendwelche Anweisungen für mich?«
Es war unmöglich, Janine Armenieu, die jetzige Madame Santoni, zu vernehmen, die ihre Flitterwochen in Florenz verbrachte.
»Ich erwarte heute abend
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