Maigret und die Unbekannte
Feret.«
»Ich hätte Sie wohl nicht wecken dürfen?«
»Doch, es war ganz richtig von dir.«
Er trank einen Schluck Wasser. Dann zündete er sich seine Pfeife an, die auf dem Nachttisch lag und in der noch etwas Tabak war.
»So, nun kannst du loslegen.«
»Ich wußte nicht, was ich machen sollte. Da ich den Fall nur aus den Zeitungen kenne, kann ich schwer beurteilen, was wichtig ist und was nicht.«
»Bist du bei Madame Laboine gewesen?«
»Ich komme gerade von ihr. Sie ist um halb zwölf aus Monte Carlo zurückgekehrt, und ich bin dann gleich zu ihr gegangen. Sie wohnt in einer Art Pension, in der nur solche verrückten alten Weiber hausen. So scheint es jedenfalls. Merkwürdig ist nur, daß es fast alles ehemalige Schauspielerinnen sind. Auch eine ehemalige Zirkusreiterin wohnt dort, und die Besitzerin behauptet, früher Opernsängerin gewesen zu sein. Die Atmosphäre läßt sich kaum beschreiben. Sie waren alle noch auf. Abends spielen die, die nicht ins Kasino fahren, Karten in einem Salon, dessen Einrichtung aus dem vorigen Jahrhundert zu stammen scheint. Man hat das Gefühl, in einem Museum zu sein. Aber ich langweile Sie wohl mit meinem Bericht?«
»Nein.«
»Ich sage Ihnen das alles nur, weil ich weiß, daß Sie sich selber ein Bild machen möchten. Und da Sie nicht haben herkommen können…«
»Fahr fort.«
»Nun, zunächst einmal weiß ich jetzt, woher sie kommt. Ihr Vater war Lehrer in einem Dorf in der Haute-Loire. Sie ist mit achtzehn Jahren nach Paris gegangen und zwei Jahre lang Statistin im ›Châtelet‹ gewesen. Schließlich hat man sie in der Reise um die Welt in achtzig Tagen und in Michael Strogoff ein paar Tanzschritte machen lassen. Sie ist dann auch in den Folies-Bérgère aufgetreten und hat anschließend mit einer Truppe eine Tournee nach Südamerika gemacht, wo sie mehrere Jahre geblieben ist. Es ist unmöglich, von ihr die genauen Daten zu erfahren, denn sie wirft alles fortwährend durcheinander.
Hören Sie noch? Ich habe mich nochmals gefragt, ob sie wohl rauschgiftsüchtig sei. Aber nachdem ich sie genau beobachtet habe, bin ich fest davon überzeugt, daß das nicht der Fall ist. Im Grunde ist sie nicht intelligent, nur etwas ausgefallen.«
»War sie nie verheiratet?«
»Darauf komme ich noch. Sie war schon über dreißig, als sie in Kabaretts auf dem Balkan und im Nahen Osten aufgetreten ist. Es war vor dem Krieg. Sie war in Bukarest, Sofia, Alexandria, ist mehrere Jahre in Kairo geblieben und scheint sogar bis nach Äthiopien gekommen zu sein.
Ich mußte ihr diese Auskünfte mühsam entlocken. Sie saß völlig abgekämpft in einem Sessel, massierte ihre geschwollenen Beine und bat mich dann sogar, ihr Korsett ausziehen zu dürfen.
Kurzum…«
Das Wort erinnerte Maigret an Mademoiselle Pore, Janine Armenieus Tante, und ihren nicht endenden Monolog.
Madame Maigret lugte mit einem Auge zu ihm hin.
»In Istanbul hat sie, obwohl sie damals schon achtunddreißig Jahre alt war, einen gewissen van Cram kennengelernt.«
»Wie war der Name?«
»Julius van Cram, ein Holländer wohl. Nach ihren Worten wirkte er wie ein echter Gentleman und wohnte im Pera-Palace.«
Maigret runzelte die Brauen und versuchte, sich darauf zu besinnen, woran ihn dieser Name erinnerte. Er war sicher, ihn nicht zum erstenmal zu hören.
»Weißt du van Crams Alter?«
»Er war viel älter als sie. Er muß damals schon über die Fünfzig gewesen sein, so daß er jetzt also fast siebzig wäre.«
»Ist er tot?«
»Das weiß ich nicht. Warten Sie! Ich möchte Ihnen alles der Reihe nach erzählen, um nichts zu vergessen. Sie hat mir ein Foto von sich aus jener Zeit gezeigt, und ich muß sagen, sie war da noch eine schöne Frau, zwar schon über die Jugend hinaus, aber sehr gut aussehend.«
»Was machte van Cram?«
»Sie scheint sich keine Gedanken darüber gemacht zu haben. Er sprach mehrere Sprachen fließend, Englisch, Französisch und Deutsch, und seine Abende verbrachte er bei den verschiedenen diplomatischen Vertretungen. Er hat sich in sie verliebt, und sie haben eine Zeitlang zusammengelebt.«
»Im Pera-Palace?«
»Nein. Er hatte ihr eine Wohnung in der Nähe des Hotels gemietet. Nehmen Sie’s mir nicht übel, Chef, daß ich’s Ihnen nicht genauer sagen kann. Wenn Sie wüßten, was es mich für eine Mühe gekostet hat, all diese Auskünfte von ihr zu erhalten! Jeden Augenblick unterbrach sie sich, um mir von einer Frau zu erzählen, die sie in diesem oder jenem Kabarett kennengelernt
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