Maigret und die Unbekannte
einen Telefonanruf aus Nizza.«
Es waren noch viele Lücken auszufüllen, und irgendwo war jemand, der das junge Mädchen ermordet und dann zur Place Vintimille gebracht hatte.
SECHSTES KAPITEL
Während des Abendessens erzählte Madame Maigret von der Tochter ihrer Nachbarin in der Nebenwohnung, die an diesem Tag zum erstenmal beim Zahnarzt gewesen war und gesagt hatte… Was hatte sie eigentlich gesagt? Maigret merkte gar nicht, daß er nur halb zuhörte und seine Frau dabei anblickte, deren Geplauder wie eine angenehme Musik klang.
Plötzlich unterbrach sie sich:
»Du lachst ja gar nicht.«
»Ja, was du da erzählst, ist wirklich sehr komisch.«
Er war mit seinen Gedanken weit weg gewesen, wie es ihm manchmal geschah. In solchen Augenblicken sah er die Leute mit großen, ein wenig starren Augen an, und jene, die ihn nicht kannten, konnten nicht wissen, daß er sie dabei gar nicht wahrnahm.
Madame Maigret fragte ihn nicht weiter, sondern ging in die Küche, um zu spülen, während er sich in seinen Sessel setzte und die Zeitung aufschlug. Nachdem sie mit dem Geschirr fertig war, hörte man kein Geräusch in der Wohnung, nur hin und wieder das leise Knistern der Zeitung, wenn er die Seite umblätterte, und das Rauschen des Regens draußen.
Als sie ihn gegen zehn Uhr die Zeitung sorgfältig zusammenfalten sah, hoffte sie einen Augenblick, daß sie schlafen gehen würden, aber er nahm eine Zeitschrift zur Hand und las weiter. So machte auch sie sich wieder an ihre Näharbeit und sagte dann und wann irgend etwas Nebensächliches, nur weil ihr das Schweigen unbehaglich war.
Die Mieter im Stock darüber hatten ihren Radioapparat ausgedreht und waren zu Bett gegangen.
»Wartest du noch auf irgend etwas?«
»Es kann sein, daß ich angerufen werde.«
Feret hatte ihm versprochen, daß er Luises Mutter, sobald sie aus Monte Carlo zurück wäre, aufsuchen und noch einmal verhören würde. Möglicherweise war er durch eine andere Arbeit aufgehalten worden. Am Vorabend der Blumenschlacht war dort unten gewiß allerlei los.
Eine Weile danach merkte Madame Maigret, daß ihr Mann gar nicht mehr las, obwohl er die Augen nicht geschlossen hatte. Sie wartete lange, bevor sie sich ein Herz faßte und sagte:
»Wollen wir nicht trotzdem schlafen gehen?«
Es war schon nach elf. Maigret fand auch, daß es Zeit sei, nahm das Telefon, trug es ins Schlafzimmer und stellte es auf den Nachttisch, hinter dem sich eine Steckdose befand.
Sie zogen sich aus, gingen nacheinander ins Badezimmer und legten sich dann ins Bett. Maigret löschte das Licht und gab seiner Frau einen Kuß.
»Gute Nacht.«
»Gute Nacht. Hoffentlich kannst du schlafen.«
Er dachte noch immer an Luise Laboine und an die anderen Menschen, die einer nach dem anderen aus der Anonymität herausgetreten waren und sich gleichsam an seine Fersen hefteten. Ihre Bilder verschwammen, verwirrten sich, und sie dünkten ihn schließlich wie Schachfiguren, doch er war so müde, daß er die Königin mit dem König, die Bauern mit den Springern verwechselte und nicht mehr wußte, wo er seine Türme aufgestellt hatte. Das war beklemmend, denn der Chef beobachtete ihn.
Die Partie war für den Quai des Orfevres entscheidend. Sein Partner war in Wirklichkeit kein anderer als Lognon, der sarkastisch lächelte und selbstsicher auf die Gelegenheit wartete, Maigret schachmatt zu setzen.
Aber das durfte nicht sein. Es ging um das Prestige des Quais. Darum standen sie alle hinter ihm, um auf ihn aufzupassen, Lucas, Janvier, Torrence, der kleine Lapointe und noch andere, die er nicht erkannte.
»Sie haben ihm etwas zugeflüstert«, sagte Lognon zu jemandem, der neben dem Kommissar stand.
»Aber das macht nichts.«
Er war ganz allein. Niemand half ihm. Wenn er gewann, was würden die Leute dann sagen?
»Flüstern Sie, soviel Sie wollen. Ich will nur nicht, daß hier gemogelt wird.«
Wie kam er auf den Gedanken, daß Maigret die Absieht haben könnte, zu mogeln? War das Maigrets Art? Hatte er je in seinem Leben gemogelt?
Er mußte nur seine Königin wiederfinden, von der die ganze Partie abhing, und dann würde schon alles gut werden. Das beste war, ein Feld nach dem anderen zu untersuchen. Seine Königin konnte nicht verloren sein.
Das Telefon läutete. Er streckte den Arm aus und tastete einen Augenblick nach dem Lichtschalter.
»Sie werden aus Nizza verlangt.«
Der Wecker zeigte zehn Minuten nach eins.
»Sind Sie’s, Chef?«
»Einen Augenblick,
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