Maigret und die Unbekannte
verbergen, daß sie sich aufspielen und große Reden schwingen oder daß sie sich in sich selbst verschließen.
Mademoiselle Janine war mehr von der ersten Art. Nichts jagte ihr Angst ein. Fast jeden Abend ging sie aus, und schon nach ein paar Wochen kam sie erst um zwei oder drei Uhr morgens zurück und hatte bereits gelernt, wie man sich anzieht. Sie wohnte noch nicht drei Monate hier, als ich sie nachts mit einem Mann hinaufgehen hörte.
Nun, das ging mich nichts an. Es war schließlich ihre eigene Wohnung. Das Haus ist keine Familienpension.«
»Hatte jede ihr eigenes Zimmer?«
»Ja. Trotzdem mußte Luise alles hören, und morgens mußte sie warten, bis der Mann gegangen war, um sich anziehen oder in die Küche gehen zu können.«
»Hat das zu Streit geführt?«
»Das weiß ich nicht. In zwei Jahren passiert viel, und es wohnen zweiundzwanzig Mieter hier im Hause. Ich konnte ja nicht ahnen, daß die eine von den beiden ermordet werden würde.«
»Was für einen Beruf hat Ihr Mann?«
»Er ist Oberkellner in einem Restaurant an der Place des Ternes. Es stört Sie doch wohl nicht, daß ich dem Kleinen sein Essen gebe?«
Sie setzte ihn auf ihren Stuhl und fütterte ihn, ohne sich dabei in ihren Gedanken ablenken zu lassen.
»Ich habe das alles gestern Ihrem Kollegen erzählt, der sich Notizen gemacht hat. Wenn Sie meine Meinung hören wollen, so muß ich sagen, Mademoiselle Janine wußte, was sie wollte, und war entschlossen, es mit allen Mitteln zu erreichen. Sie ging nicht mit jedem Beliebigen aus. Die meisten Männer, die herkamen, hatten einen Wagen, den ich morgens, wenn ich die Mülleimer hinaustrug, vor dem Hause stehen sah. Sie waren nicht unbedingt jung, sie waren aber auch nicht alt. Es ging dabei nicht allein um das Vergnügen.
Wenn sie mir Fragen stellte, merkte ich, worauf sie hinaus wollte. Wenn man sich zum Beispiel mit ihr in einem Restaurant verabredet hatte, das sie nicht kannte, wollte sie gern wissen, ob das ein schickes Restaurant sei oder nicht, wie man sich dafür anziehen müsse und so weiter.
Sie hat nicht mehr als ein halbes Jahr gebraucht, um ein gewisses Paris in- und auswendig zu kennen.«
»Begleitete ihre Freundin sie nie?«
»Nur, wenn sie ins Kino gingen.«
»Wie verbrachte Luise ihre Abende?«
»Meistens blieb sie oben. Manchmal ging sie fort, aber nie weit weg, als ob sie Angst hätte.
Sie waren beide fast gleichaltrig, aber Mademoiselle Luise wirkte neben der anderen wie ein kleines Mädchen.
Und das gerade brachte Mademoiselle Janine zuweilen auf. Einmal hat sie zu mir gesagt:
›Hätte ich doch im Zuge geschlafen, statt mit ihr zu schwatzen.‹
Dennoch bin ich sicher, daß es ihr im Anfang gar nicht so unlieb war, jemanden zu haben, mit dem sie sprechen konnte. Vielleicht ist Ihnen das auch schon aufgefallen, daß die jungen Mädchen, die nach Paris kommen, um hier ihr Glück zu suchen, fast immer zu zweit sind.
Aber allmählich begannen sie sich zu hassen.
Wohl vor allem darum, weil Mademoiselle Luise sich nicht eingewöhnen konnte und es immer nur ein paar Wochen lang in einer Stellung aushielt.
Sie hatte keine gute Schulbildung. Ihrer schlechten Rechtschreibung wegen konnte sie nicht in einem Büro arbeiten. Wenn sie irgendwo als Verkäuferin unterkam, passierte ihr immer irgendein Mißgeschick. Entweder wollte der Chef oder der Abteilungsleiter mit ihr schlafen.
Statt ihnen einfach zu verstehen zu geben, daß sie dafür nicht zu haben sei, setzte sie sich aufs hohe Pferd, ohrfeigte sie oder lief weg und schlug die Tür laut hinter sich zu. Einmal ist in dem Warenhaus gestohlen worden, und da hat man sie verdächtigt, obwohl sie bestimmt unschuldig war.
All das, wie gesagt, weiß ich nur von ihrer Freundin. Das einzige, was ich selber beobachtet habe, war, daß Mademoiselle Luise hin und wieder keine Arbeit hatte und später fortging als gewöhnlich, um sich bei Firmen vorzustellen, die durch eine kleine Anzeige jemand suchten.«
»Aßen die beiden oben?«
»Fast immer, außer wenn Mademoiselle Janine mit Freunden außerhalb aß. Im letzten Jahr sind sie beide für eine Woche nach Deauville gefahren. Genauer gesagt, sie sind zusammen abgefahren, aber die Kleine – ich meine Luise – ist schon ein paar Tage vor Janine zurückgekommen. Ich weiß nicht, was da vorgefallen ist. Sie haben eine Zeitlang kein Wort miteinander gesprochen, aber nach wie vor zusammen gewohnt.«
»Bekam Luise Post?«
»Nie persönliche Briefe. Ich habe sogar geglaubt, sie
Weitere Kostenlose Bücher