Maigret und die Unbekannte
schwieg. Er hatte den Kopf gesenkt und starrte auf den Fußboden.
»Ist das alles, was Sie dem Inspektor gesagt haben?«
»Ich glaube, ja. Ich wüßte nicht, was ich ihm sonst noch gesagt haben könnte.«
»War Luise dann nicht noch einmal hier?«
»Nein.«
»Sie wußte also nicht, daß ihre Exfreundin einen Brief für sie hatte?«
»Ich nehme es an. Jedenfalls hat sie es nicht durch mich erfahren.«
Maigret hatte eben in einer Viertelstunde viel mehr entdeckt, als er gehofft hatte. Nur die Spur hörte plötzlich auf.
Er dachte noch mehr an Lognon als an Luise Laboine, als hätte der Pechvogel auf einmal die erste Rolle zu spielen begonnen.
Lognon war hierhergekommen und hatte den gleichen Bericht gehört.
Danach war er von der Bildfläche verschwunden. Ein anderer, der wußte, was er wußte, hätte am Abend zuvor Maigret angerufen, um ihm mitzuteilen, was er herausbekommen hatte, und ihn um Instruktionen zu bitten. Nicht so Lognon! Er wollte ganz allein ans Ziel kommen.
»Sie machen einen so besorgten Eindruck«, sagte die Concierge.
»Der Inspektor hat Ihnen wohl nicht gesagt, was er darüber dachte?«
»Er hat sich bei mir bedankt und ist dann die Straße nach rechts hinuntergegangen.«
Was konnte Maigret anderes tun, als sich zu bedanken und fortzugehen? Ohne Janvier erst zu fragen, nahm er ihn in die Kneipe mit, die er vorhin bemerkt hatte, bestellte zwei Pernod und trank den seinen schweigend.
»Ruf doch mal das 2. Revier an, ob sie inzwischen etwas gehört haben, und falls man dort nichts weiß, telefoniere mit seiner Frau und mit dem Quai, ob er sich gemeldet hat.«
Als Janvier aus der Zelle herauskam, trank Maigret bedächtig einen zweiten Aperitif.
»Nichts!«
»Ich kann es mir nur so erklären, daß er nach Italien telefoniert hat.«
»Werden Sie’s nicht auch tun?«
»Ja. Aber vom Büro aus. Da bekommen wir die Verbindung schneller.«
Als sie dort ankamen, waren fast alle zum Mittagessen gegangen.
Maigret ließ sich die Liste der Florentiner Hotels geben, suchte die luxuriösesten heraus, und im dritten erfuhr er, daß die Santonis dort abgestiegen waren. Sie waren aber nicht in ihrem Appartement, sondern vor einer Viertelstunde zum Mittagessen ins Restaurant hinuntergegangen.
Dort erreichte er sie ein wenig später, und er hatte das Glück, daß der Oberkellner, der in Paris gearbeitet hatte, ein wenig Französisch verstand.
»Würden Sie mir Madame Santoni an den Apparat rufen?«
Kurz darauf vernahm Maigret eine aggressive Männerstimme.
»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir sagen würden, was das alles zu bedeuten hat.«
»Wer ist am Apparat?«
»Marco Santoni. In der letzten Nacht hat man uns geweckt, weil die Pariser Polizei angeblich eine dringende Auskunft brauchte. Heute stören Sie uns sogar im Restaurant.«
»Entschuldigen Sie bitte, Monsieur Santoni, hier spricht Kommissar Maigret von der Kriminalpolizei.«
»Das erklärt mir auch nicht, was meine Frau damit zu tun haben soll.«
»Es geht gar nicht um sie, sondern um eine ehemalige Freundin von ihr, die ermordet worden ist.«
»Das gleiche hat uns schon der Mann in der letzten Nacht gesagt. Und ist das ein Grund, daß…«
»Ihrer Frau war ein Brief übergeben worden. Dieser Brief würde es uns wahrscheinlich ermöglichen…«
»Muß man darum zweimal angerufen werden? Alles, was sie wußte, hat sie schon dem Inspektor gesagt.«
»Der Inspektor ist verschwunden.«
»Ach.«
Sein Zorn verrauchte.
»Nun, dann werde ich meine Frau rufen. Ich hoffe aber, Sie lassen sie danach in Ruhe und verhindern, daß ihr Name in die Zeitungen kommt.«
Man hört ein Flüstern. Janine schien mit ihrem Mann in der Zelle zu sein.
»Ja, bitte«, sagte sie.
»Entschuldigen Sie, Madame, Sie wissen schon, worum es sich handelt. Die Concierge in der Rue de Ponthieu hat Ihnen einen für Luise bestimmten Brief übergeben.«
»Ich bedauere, ihn an mich genommen zu haben.«
»Was ist aus dem Brief geworden?«
Es gab ein Schweigen, und einen Augenblick glaubte Maigret, die Verbindung sei getrennt.
»Haben Sie ihn ihr am Abend Ihrer Hochzeit gegeben, als sie zu Ihnen ins Romeo kam?«
»Nein. Ich hatte ihn an dem Abend natürlich nicht bei mir.«
»Hat Luise Sie jenes Briefes wegen aufgesucht?«
Wieder ein Schweigen, ein Zögern.
»Nein, sie wußte ja gar nichts davon.«
»Was wollte sie von Ihnen?«
»Ich sollte ihr natürlich Geld leihen. Sie hat mir gesagt, sie habe nicht einen Sou mehr, ihre Wirtin habe ihr gekündigt,
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