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Maigret und die Unbekannte

Maigret und die Unbekannte

Titel: Maigret und die Unbekannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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sei Waise. Ihre Freundin hat mir erzählt, die Mutter lebe im Süden, sei aber halb verrückt und kümmere sich nicht um die Tochter. Hin und wieder bekam Mademoiselle Luise, wenn sie sich auf Annoncen schriftlich bewarb, ein paar Briefe mit Firmenaufdruck, und ich wußte, was das bedeutete.«
    »Und Janine?«
    »Die bekam alle drei Wochen einen Brief aus Lyon. Von ihrem Vater, der dort als Witwer lebt. Und dann vor allem Rohrpostbriefe, durch die man sich mit ihr verabredete.«
    »Ist es schon lange her, daß Janine Ihnen gegenüber den Wunsch äußerte, ihre Freundin loszuwerden?«
    »Zum erstenmal hat sie mir das vor einem Jahr gesagt, vielleicht auch vor eineinhalb Jahren, aber wenn sie davon sprach, hatten sie sich immer gezankt, oder Luise hatte wieder einmal ihre Stellung verloren. Janine seufzte dann jedesmal:
    ›Wenn ich denke, daß ich meinen Vater verlassen habe, um frei zu sein, und mir nun dieses dumme Geschöpf aufgebürdet habe!‹
    Aber am nächsten oder übernächsten Tage war sie, wenn sie nach Hause kam, froh, sie vorzufinden. Davon bin ich fest überzeugt. Es waren immer nur so die üblichen Ehekräche. Sie sind doch wohl alle beide verheiratet?«
    »Vor sechs Monaten ist Janine Armenieu ausgezogen?«
    »Ja. Sie hatte sich in der letzten Zeit sehr verändert. Sie zog sich besser an, das heißt, sie trug teurere Kleider, und verkehrte in eleganteren Restaurants als zuvor. Manchmal kam sie zwei oder drei Tage lang nicht nach Hause. Man schickte ihr Blumen und Konfekt. Nun, und eines Abends kam sie in meine Loge und sagte:
    ›Diesmal gehe ich für immer, Madame Marcelle. Ich habe nichts gegen das Haus, aber ich kann nicht ewig mit dem Mädchen zusammenwohnen.‹
    ›Wollen Sie am Ende heiraten?‹ habe ich im Scherz gefragt.
    Sie hat nicht darüber gelacht, sondern gemurmelt: ›Nicht sofort. Wenn es soweit ist, werden Sie es in der Zeitung lesen.‹
    Sie hatte da wohl schon Monsieur Santoni kennengelernt.
    Ich habe weiter gescherzt:
    ›Werden Sie mich denn zu Ihrer Hochzeit einladen?‹
    ›Das kann ich Ihnen nicht versprechen, aber ich werde Ihnen ein hübsches Geschenk schicken.‹«
    »Hat sie’s getan?« fragte Maigret.
    »Noch nicht. Aber sie wird es wahrscheinlich noch tun. Jedenfalls hat sie ihr Ziel erreicht und verlebt jetzt ihre Flitterwochen in Italien. Um auf jenen Abend zurückzukommen: Sie hat mir gestanden, sie werde ausziehen, ohne ihrer Freundin etwas davon zu sagen, und werde dafür sorgen, daß Luise sie nicht wiederfinden könne.
    ›Sonst hängt sie sich womöglich wieder an mich!‹ Und so hat sie’s dann auch gemacht. Als die andere gerade fort war, ist sie mit ihren beiden Koffern auf und davon und hat mir nicht einmal ihre neue Adresse hinterlassen, um ganz sicher zu sein, daß Luise sie nicht verfolgen konnte.
    ›Ich werde hin und wieder vorbeikommen, um zu sehen, ob Post für mich da ist.‹«
    »Haben Sie sie wiedergesehen?«
    »Drei- oder viermal. Für ein paar Tage war die Miete noch bezahlt, und am letzten Morgen ist Mademoiselle Luise zu mir gekommen und hat mir gesagt, sie müsse ausziehen. Ich muß gestehen, ich hatte Mitleid mit ihr. Sie weinte zwar nicht, aber ihre Lippen zitterten, als sie es mir sagte, und ich spürte, wie verzweifelt sie war. Ihr ganzes Gepäck bestand aus einem kleinen blauen Koffer. Ich habe sie gefragt, wohin sie ziehe, und sie hat mir geantwortet, das wisse sie selber noch nicht.
    ›Wenn Sie noch ein paar Tage wohnen bleiben wollen, bis ich einen neuen Mieter gefunden habe…‹
    ›Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich möchte lieber nicht…‹
    Das war ganz sie. Ich hab’ ihr nachgeblickt, wie sie mit ihrem Koffer in der Hand davonging, und als sie um die Straßenecke bog, hätte ich sie am liebsten zurückgerufen, um ihr etwas Geld zu geben.«
    »Ist sie noch einmal hergekommen?«
    »Ja. Sie wollte die neue Adresse ihrer Freundin wissen. Ich habe ihr geantwortet, ich wisse sie nicht. Aber sie hat es mir wohl nicht geglaubt. Wahrscheinlich wollte sie die Adresse, um sich wieder mit ihr zu versöhnen oder sie um Geld zu bitten. Man brauchte nur ihre Kleidung anzusehen, um zu erkennen, daß es ihr schlecht ging.«
    »Wann war sie zum letztenmal hier?«
    »Vor etwas mehr als einem Monat. Ich hatte gerade die Zeitung gelesen, die noch auf dem Tisch lag. Doch ich hätte wohl nicht tun dürfen, was ich getan habe.
    ›Ich weiß nicht, wo sie wohnt‹, habe ich zu ihr gesagt, ›aber hier in der Zeitung steht etwas über

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