Maigret und die Unbekannte
eigentlich ein wenig die Hintertreppe der Champs-Elysées sei. Jede große Pariser Straße hat, oft parallel zu ihr, solche ›Hintertreppe‹, eine engere und belebte Straße, in der man kleine Bars und Lebensmittelläden, Chauffeurkneipen und billige Hotels, Frisiersalons und kleine Werkstätten findet.
Genau gegenüber sah er einen Weinausschank, in den hineinzugehen er Lust verspürte, und er wollte es gerade tun, als Janvier schon wieder auftauchte. »Hier ist es, Chef!«
Gleich das erste Haus, in dem sie’s probiert hatten, war das richtige. Die Pförtnerloge war nicht heller als die meisten der Pariser Pförtnerlogen, aber die Concierge war jung und frisch, und in einem grünlackierten Laufstall tummelte sich ein Baby.
»Sie sind auch von der Polizei, nicht wahr?«
»Warum sagen Sie auch?«
»Weil gestern abend schon jemand von der Polizei hier war. Ich wollte gerade schlafen gehen. Es war ein kleiner Mann, der so traurig aussah, daß ich im ersten Augenblick meinte, er habe seine Frau verloren und weine. Aber dann sah ich, daß er erkältet war.«
Es war schwer, über diese Beschreibung des Pechvogels nicht zu lächeln.
»Wie spät war es?«
»Ungefähr zehn Uhr. Ich war dabei, mich hinter dem Paravent auszuziehen, und mußte ihn deshalb warten lassen. Kommen Sie wegen der gleichen Angelegenheit?«
»Ich nehme an, er hat sie über Mademoiselle Armenieu verhört.«
»Ja, und über ihre Freundin, die ermordet worden ist.«
»Haben Sie sie auf dem Foto in der Zeitung wiedererkannt?«
»Ich dachte, sie müßte es sein.«
»Wohnte sie hier?«
»Setzen Sie sich doch bitte, Messieurs. Erlauben Sie, daß ich das Essen für den Kleinen fertig mache? Wenn es Ihnen zu heiß ist, können Sie ruhig Ihre Mäntel ausziehen.«
Kurz darauf fragte sie:
»Gehören Sie nicht derselben Abteilung an wie der von gestern? Ich weiß nicht, warum ich Sie das frage. Es geht mich ja eigentlich gar nichts an. Wie ich Ihrem Kollegen gestern gesagt habe, war die eigentliche Wohnungsinhaberin Mademoiselle Armenieu, Mademoiselle Janine, wie ich sie nannte. Aber jetzt hat sie geheiratet. Wissen Sie es schon?« Maigret nickte.
»Hat sie lange hier gewohnt?«
»Fast zwei Jahre. Als sie einzog, war sie noch sehr jung und unbeholfen und ist zu mir gekommen, um mich um Rat zu fragen.«
»Arbeitete sie?«
»Sie war damals Stenotypistin in einem Büro, nicht weit von hier, aber ich weiß nicht genau, wo. Sie hat die kleine Wohnung im dritten Stock gemietet, die zwar auf den Hof geht, aber innen sehr hübsch ist.«
»Wohnte ihre Freundin nicht bei ihr?«
»Doch. Nur sie bezahlte eben die Miete, und der Mietvertrag ging auf ihren Namen.«
Sie sprach völlig unbefangen, und es fiel ihr um so leichter, als sie schon am Tage zuvor diese Auskünfte gegeben hatte.
»Ich weiß schon, was Sie mich fragen werden. Sie sind vor etwa einem halben Jahr ausgezogen. Genauer gesagt, Mademoiselle Janine ist als erste ausgezogen.«
»Ich denke, die Wohnung ging auf ihren Namen?«
»Ja. Der Monat war fast um. Es fehlten nur noch drei oder vier Tage bis Ultimo. Eines Abends ist Mademoiselle Janine zu mir gekommen, hat sich auf den gleichen Stuhl gesetzt, auf dem Sie jetzt sitzen, und hat zu mir gesagt:
›Ich hab’s jetzt satt, Madame Marcelle. Diesmal mache ich wirklich Schluß.‹«
Maigret fragte:
»Womit Schluß?«
»Mit ihrer Freundin Luise.«
»Vertrugen sie sich nicht?«
»Das wollte ich Ihnen eben zu erklären versuchen. Mademoiselle Luise kam nie zu einem Schwätzchen herein, und alles, was ich von ihr weiß, weiß ich nur durch ihre Freundin, so daß ich nur die eine Seite kenne. In der ersten Zeit habe ich geglaubt, sie seien Schwestern, Kusinen oder Jugendfreundinnen. Aber dann hat mir Mademoiselle Janine erzählt, sie hätten sich zwei oder drei Monate zuvor im Zuge kennengelernt.«
»Mochten sie sich nicht?«
»Ja und nein. Es ist schwer zu sagen. Ich habe hier mehrere Mädchen dieses Alters wohnen gehabt, und auch jetzt wohnen noch zwei hier, die im Lido tanzen. Eine andere ist Maniküre im Claridge. Die meisten erzählen mir ihre kleinen Erlebnisse, und so hat es auch Mademoiselle Janine gemacht. Aber Luise hat sich mir nie anvertraut. Ich habe sie lange für hochmütig gehalten. Dann habe ich geglaubt, sie sei ein bißchen schüchtern, und zu der Meinung neige ich auch heute noch.
Sehen Sie, wenn diese jungen Dinger nach Paris kommen, fühlen sie sich inmitten der Millionen Menschen verloren und wollen das damit
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