Maigret verteidigt sich
Zeit, die Karte genau zu studieren, während Maigret zwei oder drei Schritte näher trat.
»Setzen Sie sich bitte.«
Er wirkte völlig anders, als man ihn sich nach dem, was Marcel Landry gesagt hatte, vorgestellt hätte. Noch weniger konnte man ihn sich als den Bürgen Nicoles in dem von Musik vibrierenden Keller des ›Klubs der Hundert Schlüssel‹ vorstellen. Er hatte flammendrotes Haar, und als er den Kopf hob, sah man eine randlose Brille mit dicken Gläsern und blaßblauen Augen dahinter. Er wirkte sehr jung. Trotz seiner achtunddreißig Jahre hätte man ihn für einen Studenten halten können.
»Haben Sie die Zahnschmerzen plötzlich bekommen?«
Er machte keine Anspielung auf Maigrets Beruf, und sein Blick verriet keine Neugier.
»Ja, gestern abend, als ich zu Bett ging.«
»Haben Sie schon vorher Schmerzen gehabt? In den letzten Wochen?«
»Nein. Ich habe an sich sehr gute Zähne. Ich bin in meinem Leben kaum mehr als zehnmal bei einem Zahnarzt gewesen.«
»Nun, wir werden uns das mal ansehen.«
Er erhob sich, und Maigret machte eine neue Entdeckung: Mélan war riesengroß und überragte ihn fast um einen Kopf. Sein Kittel, der kaum sauberer war als der der Schwester, bedeckte nicht die Knie. Seine Hose hatte es dringend nötig, gebügelt zu werden.
Der Behandlungsstuhl stand in der Mitte des Raums. Darüber hing eine gelbe Lampe. Zwischen dem Stuhl und dem Fenster lagen auf einem schmalen Tisch Instrumente aufgereiht. Maigret nahm zögernd Platz. Man legte ihm eine dünne Kette um den Hals, an der eine Serviette befestigt wurde. Durch einen Druck des Fußes auf das Pedal stieg der Stuhl langsam höher.
Das alles war banal. Die gleiche Szene spielte sich mit den gleichen Gesten im gleichen Augenblick bei unzähligen Pariser Zahnärzten ab.
»Legen Sie den Kopf zurück! Gut. Öffnen Sie den Mund!« Hier war es nicht so still wie im übrigen Haus. Das Sprechzimmer lag zur Straße hin. Es hatte keine Scheiben aus Mattglas, sondern Fenster mit Tüllgardinen, hinter denen man die kremfarbene Fassade des Hauses gegenüber sah, offene Fenster, eine Frau, die in ihrer Küche hin und her ging.
Die Geräusche der Straße hallten herauf.
Mélan hielt stumm einen kleinen Spiegel über eine Flamme und ergriff ein funkelndes Instrument.
»Machen Sie den Mund bitte noch weiter auf.«
Als er sich über ihn beugte, sah Maigret das Gesicht ganz nah wie durch ein Vergrößerungsglas. Die Haut war rötlich und wie bei vielen Rothaarigen voller Sommersprossen.
Der Arzt schwieg noch immer. Seit der Kommissar eingetreten war, hatte er nur das Nötigste geredet, und als er aufgestanden war, hatte er es mit der Unbeholfenheit eines Schüchternen getan.
Mit einem spitzen Instrument kratzte er an den Backenzähnen.
»Spüren Sie etwas?«
»Nein«, versuchte Maigret mit offenem Munde zu antworten.
»Und jetzt?«
»Nein…«
»Hier…?«
Nicht der geringste Schmerz. Es stimmte, Maigret hatte fast nie an den Zähnen gelitten. Mélan legte das Instrument hin und nahm einen kleinen Hammer.
»Tu ich Ihnen weh?«
»Es ist unangenehm.«
»Aber kein heftiger Schmerz?«
Warum nahm sich der Kommissar plötzlich vor, daß er sich unter keinen Umständen eine Spritze machen lassen würde? Er bekam Angst. Keine panische Angst, sondern eine vage, unbestimmte Angst. Er lag mehr, als er saß, mit zurückgelehntem Kopf und offenem Mund und fühlte sich fast wie ein Gefangener.
Warum war er in dieses Haus gegangen? Weil er den Mann suchte, der ihm übel mitgespielt hatte.
Er suchte den Mann, der ihn rücksichtslos kompromittieren wollte, indem er einen komplizierten, bis ins letzte ausgetüftelten Plan entwarf und ein junges Mädchen aus guter Familie als Werkzeug benutzte. Warum sagt man eigentlich aus guter Familie? Weil die anderen aus schlechter Familie sind?
Wenn er hier war, dann darum, weil er Gründe hatte, so verschwommen sie auch waren, den rothaarigen Zahnarzt zu verdächtigen.
In den blauen Augen, die die Brillengläser größer machten, war nichts zu lesen. Die Gesichtszüge waren so starr wie Beton, und der Atem roch nach Zigarette.
»Jeder Mensch kann zum Mörder werden, wenn er dafür ausreichende Motive hat.«
Maigret hatte das eines Tages als Antwort auf eine Frage Pardons oder eines Journalisten gesagt.
Aber jemand hatte versucht, ihn zu kompromittieren, ihn von einem Tage zum anderen von seinem Posten zu entfernen.
Wenn das nun Mélan war? Noch nicht vierundzwanzig Stunden waren seit dem Gespräch
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