Maigret verteidigt sich
mit dem Polizeipräfekten verstrichen, und der Kommissar war nicht nur noch auf seinem Posten, sondern er erschien bei dem Zahnarzt.
Verworrene Gedanken… Wenn… Und wenn…
Aber wenn auch Mélan in diesem Augenblick ausreichende Gründe hatte, das Ränkespiel aufzuziehen, dessen Werkzeug Nicole gewesen war, hatte er dann nicht ebenso viele, um sich auf andere Weise des Kommissars zu entledigen?
»Spülen Sie! Spucken Sie aus!«
Maigret gehorchte unter dem Blick des stehenden Arztes, der sich nach wie vor nichts anmerken ließ.
»Ihre Zähne sind völlig gesund, und Sie können keine Zahnschmerzen gehabt haben. Wenn Sie in der letzten Nacht wirklich im rechten Kiefer starke Schmerzen hatten, dann könnte das eine beginnende Neuralgie sein.«
»Läßt sich nichts dagegen tun?«
»Das ist Sache Ihres Hausarztes.«
Um seine Instrumente zu ordnen, drehte er Maigret den Rücken zu, der sich nicht ohne Mühe aus dem Behandlungsstuhl erhob. Er machte dann einen Schritt, stand weniger als zwei Meter vom Fenster entfernt und sah durch die Tüllgardine Aline im Neglige. Sie rauchte eine Zigarette und blickte auf die Straße.
Er wußte, wie die Zimmer im Hause gegenüber lagen. Das Fenster, an dem Manuels Freundin stand, war das des kleinen Raums, in dem sich der Krüppel den größten Teil des Tages aufhielt.
Er wurde ein wenig blaß, denn plötzlich überfiel ihn Angst, eine viel bestimmtere als vorhin.
»Was schulde ich Ihnen?« murmelte er.
»Regeln Sie das mit meiner Assistentin.«
Immer noch ruhig öffnete M61an die Tür zu dem Büro, in dem die Sekretärin seine Karteikarte ausgefüllt hatte. Ohne noch ein Wort zu sagen, schloß der Zahnarzt die Tür. Die Assistentin deutete auf den Stuhl, auf dem Maigret vorhin gesessen hatte.
»Nehmen Sie Platz. Ich bin gleich wieder da.«
Sicherlich führte sie inzwischen die Patientin mit dem traurigen Gesicht ins Sprechzimmer.
Auf dem Schreibtisch stand ein langer, schmaler Holzkasten, in dem sich die Karteikarten befanden. Die Versuchung war stark. Aber vielleicht war das eine Falle. Maigret ließ die Finger davon.
»Sind Sie in einer Krankenversicherung? Zeigen Sie mir bitte Ihre Karte.«
Er suchte sie in seiner Brieftasche, die immer von unnützen Papieren vollgestopft war, und reichte sie der häßlichen Frau. Sie notierte die Nummer.
»Die Behandlung kostet zwanzig Francs. Ihre Kasse wird Ihnen achtzig Prozent ersetzen.«
Sie gab ihm seine Karte wieder. Auch sie verzichtete auf jede Höflichkeit. Sie ließ ihn zur Tür gehen, drückte auf einen Klingelknopf, der ein leises Klingeln im Erdgeschoß auslöste.
»Sie können hinuntergehen.«
»Ich danke Ihnen.«
Unten erwartete ihn die Spanierin und folgte ihm bis zur Haustür, die sie hinter ihm schloß. Durch ein Wunder hatte Lucas einen Platz im Schatten gefunden und las am Steuer sitzend eine Zeitung.
Maigret hob den Kopf, sah Aline nicht mehr an ihrem Fenster und ging in das Haus gegenüber.
Im dritten Stock klingelte er, hörte das Summen des Staubsaugers und wurde von der alten Putzfrau empfangen, die er schon bei seinen früheren Besuchen gesehen hatte.
»Möchten Sie zu Monsieur Palmari?«
»Und zu Mademoiselle Aline.«
»Ich glaube, sie badet gerade. Aber gehen Sie nur hinein.«
Er betrat den Salon. Die Tür zu dem kleinen Zimmer stand offen, und Manuel, in seidenem Pyjama in seinem Rollstuhl sitzend, hörte Radio und stellte nur widerwillig den Apparat ab.
»Schon wieder!«
Maigret trat näher, und der Staubsauger begann hinter ihm von neuem zu summen.
»Ich möchte vor allem Aline sprechen.«
»Sie war vor wenigen Minuten noch hier.«
»Ich weiß. Ich habe sie am Fenster gesehen.«
»Sie badet jetzt. Was wollen Sie von ihr?«
»Ehrlich gesagt, ich weiß es noch nicht.«
»Hören Sie, Herr Kommissar, ich habe mich Ihnen gegenüber immer korrekt verhalten. Ich habe Ihnen gelegentlich kleine Dienste erwiesen, die mir weitere Kugeln eingebracht hätten, wenn es jemand erfahren hätte… Aber jetzt übertreiben Sie. Ich habe es satt, daß man mir alle Missetaten, die in Paris ausgeheckt werden, in die Schuhe schiebt. Würden Sie es sich gefallen lassen, daß man Sie ständig argwöhnisch betrachtet und Ihnen dumme Fragen stellt, ohne Ihnen auch nur zu sagen, worum es geht?«
»Geht es mir nicht selbst im Augenblick ein wenig so?«
»Ein Grund mehr, die anderen nicht zu belästigen. Aline hat Sie vorhin aus dem Wagen steigen und bei dem Zahnarzt klingeln sehen. Und nur, weil sie Ihnen
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