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Maigret verteidigt sich

Maigret verteidigt sich

Titel: Maigret verteidigt sich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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vergoldeten Tischchen gestapelt. Aber die Frau saß reglos da, die beiden Hände auf ihrer Handtasche, und starrte auf den Teppich mit dem Blumenmuster. Sie warf dem Kommissar kaum einen gleichgültigen Blick zu, ehe sie wieder in ihren trüben Gedanken versank.
    Gegenüber öffnete sich eine Tür, und die Sekretärin oder Schwester, von der Aline ihm berichtet hatte, fragte ihn unfreundlich, was er wollte. Ihre Stimme war kühl, und sie hatte harte Augen. Sie war eine jener häßlichen, so häßlichen Frauen, die weder eine richtige Kindheit noch Jungmädchenzeit gekannt haben und die Schuld daran wohl der ganzen Welt geben.
    »Ich möchte zu Dr. Mélan.«
    »Sind Sie angemeldet?«
    »Nein.«
    »Er empfängt nur auf Anmeldung.«
    »Aber auf dem Schild rechts von der Tür steht, daß er von zehn bis zwölf Uhr Sprechstunden hat und nur am Nachmittag nach Vereinbarung.«
    »Das ist ein altes Schild.«
    »Ich habe in der letzten Nacht heftige Zahnschmerzen bekommen, und Aspirin hilft nicht. Ich möchte, daß der Arzt…«
    »Waren Sie schon einmal hier?«
    »Nein.«
    »Wohnen Sie im Viertel?«
    »Nein.«
    »Wie kommt es dann, daß Sie sich gerade Dr. Mélan ausgesucht haben?«
    »Ich ging durch die Straße und sah sein Schild.«
    »Kommen Sie mit.«
    Sie führte ihn in ein kleines Büro mit weißgestrichenen Wänden, aber das Weiß war so schmuddelig wie das ganze Haus. Sie setzte sich an den Schreibtisch.
    »Nehmen Sie Platz. Ich kann Ihnen nicht versprechen, daß Dr. M61an Sie zwischendurch behandeln wird, aber ich werde auf alle Fälle eine Karteikarte für Sie ausfüllen. Ihr Name?«
    »Maigret, Jules Maigret…«
    »Beruf?«
    »Beamter.«
    »Alter, Adresse…«
    »Zweiundfünfzig Jahre. Boulevard Richard-Lenoir.«
    Sie zuckte nicht zusammen. Freilich hatte sie den Kopf über die Karte gebeugt, und er sah ihre Augen nicht.
    »An welchem Zahn haben Sie die Schmerzen?«
    »An einem Backenzahn rechts, dem zweiten, glaube ich…«
    »Warten Sie nebenan. Ich kann Ihnen aber nichts versprechen. Wenn Sie es sehr eilig haben, rate ich Ihnen, einen anderen Zahnarzt aufzusuchen.«
    »Ich werde warten.«
    Das Fenster des Wartezimmers ging wirklich auf einen Garten, und er sah dort mitten auf dem Rasen die Linde, an die er gedacht hatte.
    Ein Treibhaus, Gartengeräte und verwilderte Beete.
    Dahinter ragte ein sechs- oder siebenstöckiges Haus auf. Es war die Hinterseite des Hauses, die man von hier aus sah, und vor mehreren Fenstern trocknete Wäsche auf Leinen.
    Er setzte sich und drehte seine Pfeife in der Tasche. Er hätte vielleicht geraucht, wäre da nicht die junge Frau mit dem traurigen Blick gewesen. Eine Pendule aus schwarzem Marmor tickte, wie es ihrer viele in den Büros am Quai des Orfevres gab. Sie zeigte zwanzig Minuten nach zehn. Er fragte sich, ob er hier noch würde warten müssen, wenn die Zeiger die Zwölf erreicht hatten.
    Er bemühte sich, nicht zu denken, keine Vermutungen anzustellen, klaren Kopf zu behalten. Um sich die Zeit zu vertreiben, registrierte er winzige Einzelheiten – den Spiegel über dem Kamin, auf dem die Fliegen seit Jahren kleine braune Spuren hinterlassen hatten, den altmodischen Rost, die nicht zueinander passenden Sessel. Nichts war an sich häßlich. Auch das Haus nicht, das um 1870 oder 1880 herum gebaut worden war, lange vor den Mietshäusern in der Straße.
    Es würde bald verschwinden, und vielleicht stürzte man sich darum nicht in die Unkosten, es neu streichen zu lassen.
    Man merkte auch, daß es ein Haus ohne Frau und Kinder war. Die dritte Tür des Zimmers war gepolstert, wie man sie noch bei alten Notaren und einigen Behörden findet. Man hörte nichts von dem, was dahinter vorging.
    Es war übrigens im ganzen Hause totenstill, und da das Fenster geschlossen war, hörte man auch kaum das Gezwitscher von Vögeln in der Linde.
    Trotz der Hitze draußen war es hier sehr kühl.
    »Herr Doktor bittet Sie, sich noch etwas zu gedulden, Mademoiselle… Er wird Sie in wenigen Minuten empfangen.«
    Es war die Schwester, der die junge Patientin mit einem Blick antwortete, der zeigte, daß sie sich in ihr Schicksal ergab.
    »Folgen Sie mir bitte, Monsieur Maigret.«
    Sie öffnete die gepolsterte Tür, dann die graugestrichene, die sich dahinter befand. Sie kamen plötzlich aus dem Dunkel in die Sonne. Ein Mann in weißem Kittel saß vor einem Louis-Philippe-Schreibtisch und hielt zwischen den Fingern Maigrets Karteikarte.
    Die Schwester war verschwunden. Francois Mélan nahm sich

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