Maigret verteidigt sich
daß er der Wahrheit nahe war. Man spürte, er witterte nach allen Seiten, nach rechts, nach links. Er reichte Aline das Foto von Nicole Prieur.
»Haben Sie sie nie in der Rue Fontaine gesehen?«
»Ist das das Mädchen, von dem Sie gestern sprachen?«
Er nickte.
»In der Rue Fontaine, nein. Aber in dieser Straße, auf dem Gehsteig gegenüber.«
»Ging sie zu dem Zahnarzt?«
»Ja. Aber nie während der Sprechstunden.«
»Spät abends?«
»Nicht besonders spät. Um neun, um halb zehn.«
»Brannte im Sprechzimmer Licht?«
»An jenen Abenden nicht.«
»Aber an anderen Abenden?«
»Ja, ziemlich oft.«
»Können Sie durch die Tüllgardine hindurchsehen?«
»Nein. Man läßt die Jalousien herunter, aber man sieht den Lichtschein durch die Ritzen.«
»Wenn ich recht verstehe, sucht Nicole Prieur Dr. Mélan nicht als Patientin auf…«
Er wußte das schon seit dem Abend vorher.
»Empfängt der Arzt noch andere Personen außerhalb der Sprechstunden? Männer? Frauen?«
Aline riß die Augen weit auf.
»Da fällt mir etwas ein. Ich sehe von Zeit zu Zeit tagsüber Männer hineingehen, aber meist sind es Frauen.«
»Junge?«
»Junge und weniger junge. Wissen Sie, ich bin keine Concierge und verbringe meine Zeit nicht damit, die Leute zu belauern, die hineingehen und herauskommen. Aber ich stehe ziemlich oft am Fenster…«
»Ich habe deswegen schon oft genug mit ihr geschimpft«, murmelte Manuel. »Ich habe mich gefragt, ob sie nicht nach einem Liebhaber Ausschau hält oder ob sie sich nicht mit mir zu langweilen beginnt.«
»Du bist wirklich dumm!«
»Dumm oder nicht dumm, ich weiß, wie alt ich bin, und mein verfluchtes Bein macht alles noch schlimmer…«
»Viele der jungen, wie du sagst, können dir nicht das Wasser reichen.«
Manuel lächelte stolz, und sie schienen wirklich ineinander verliebt zu sein.
»Kommen abends auch Männer?«
»Was für einen Hintergedanken haben Sie?«
»Noch keinen bestimmten. Ich suche…«
»Mir scheint, Sie suchen an merkwürdigen Orten.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich meine, was die Frauen betrifft. Sie glauben wohl, sie kommen nicht, um sich die Zähne behandeln zu lassen? Aber da er sie in seinem Sprechzimmer empfängt, kann er es nicht mit ihnen treiben. Es gibt bestimmt in dem Hause für diese Spiele geeignetere Räume, und er hat keine eifersüchtige Frau, die ihm Szenen macht. Schließen Sie daraus, daß sie etwas anderes behandeln lassen als ihre Zähne?«
»Sind Sie schon einmal schwanger gewesen?«
Sie blickte Manuel an, der mit den Schultern zuckte.
»Wie alle.«
»Haben Sie keine Kinder?«
»Sprechen Sie nicht davon! Die Welt ist schlecht eingerichtet. Wenn man keine will, bekommt man schon einen dicken Bauch, wenn man einen Mann nur ansieht. Und dann, wenn man gern ein Kind im Hause haben würde. Nicht wahr, Papa? Nichts mehr zu machen…«
»Waren Sie bei einem Arzt?«
»Damals hätte ich mir keinen leisten können. Die so etwas tun, verlangen wegen des Risikos irre Preise, und darum bin ich zu einer Madame Pipi gegangen.«
»Eine Toilettenfrau?«
»Erzählen Sie mir nicht, daß Sie es nicht wissen. Es gibt mindestens zehn in Montmartre, die immer bereit sind, für keinen sehr hohen Preis jungen Mädchen in ihrer Not zu helfen.«
Sie starrte ins Leere. Es fiel ihr etwas ein.
»Sagen Sie mal. Wenn Sie recht haben, verstehe ich jetzt, warum die alte Elster mich von oben bis unten musterte, als wollte sie meine Anatomie studieren. Das erklärt auch, warum sie mich gefragt hat, ob ich an etwas anderem litte als an den Zähnen.«
»Hat Ihnen der Zahnarzt nichts Besonderes gesagt?«
»Er hat kaum den Mund aufgemacht. Aus der Nähe könnte man glauben, die Augen sprängen ihm aus dem Kopf. ›Öffnen Sie den Mund. Spülen Sie. Spucken Sie aus!‹«
»Müssen Sie noch einmal zu ihm?«
»Morgen vormittag. Er hat mir eine Einlage gemacht, von der ich einen schlechten Geschmack habe, der mir den Genuß an der Zigarette verdirbt.«
»Wenn ich Sie bitte…«
Aber Manuel griff ein.
»Das nicht, Herr Kommissar. Man erweist Ihnen gern kleine Dienste. Was Sie übrigens nicht daran hindert, mich in eine üble Lage zu bringen. Sie brauchen nicht zu protestieren. Ich weiß, was ich weiß. Aber diese Geschichte ist wie Alines Einlage: sie stinkt. Und ich, ich habe auch noch ein Wörtchen mitzureden, ich sage: Nein! Ich verbiete ihr sogar, noch einmal das Haus zu betreten. Einlage oder nicht, sie wird zu einem anderen Zahnarzt
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