Maigret verteidigt sich
Martine ist auf Musik ganz versessen. Ich ebenfalls, wenn auch nicht ganz so sehr wie sie.«
Wie unschuldig das alles war. Die beiden jungen Mädchen hörten in dem Zimmer Musik… Was für Musik? Bach? Moderne Schlager? Jazz?
»Ich habe sie gegen halb zwölf verlassen und hatte eigentlich vor, gleich nach Hause zu gehen. Aber als ich auf dem Boulevard war, überkam mich plötzlich die Lust, noch ein wenig umherzuschlendern, denn die Nacht war kühl, und der Tag war drückend heiß gewesen.«
Er versuchte sie sich vorzustellen – in dem Salon am Boulevard Courcelles, wo sie mit wichtiger Miene diese Aussage diktierte. Die Sätze schienen aus einem Aufsatz zu stammen. War ihr Onkel dabei?
»Ich bin dann in die Rue de Seine eingebogen, um zu den Quais zu gelangen, denn ich promeniere für mein Leben gern auf den Quais, besonders nachts. Erst da habe ich gemerkt, daß ich bei Martine zwei Schallplatten vergessen hatte. Ich hatte sie mitgenommen, damit sie sie hören konnte.
Mein Onkel hat die Gewohnheit, früh schlafen zu gehen, denn er steht sehr früh auf. Ich wußte, daß er für etwa eine Stunde fort gewesen war. Ich hatte Angst, daß Martine mich zu Hause anrufen würde, um zu sagen, daß ich meine Schallplatten vergessen hätte.«
Das war möglich. Alles war möglich. Maigret wußte das jetzt besser denn je. Aber diese Stelle klang weniger klar als der Anfang der Aussage.
»Ich befand mich vor einem kleinen Lokal, in dem der Wirt am Fenster saß und seine Zeitung las. Ich sehe noch deutlich die an das Fenster gemalten Buchstaben: ›Chez Desiré‹. Ein altmodisches Bistro mit einer Theke, fünf oder sechs Tischchen aus lackiertem Holz und einer ziemlich kläglichen Beleuchtung. Ich bin hineingegangen…«
Bald sollte auch Maigret auf der Szene erscheinen, und er fragte sich, wie sie ihn schildern würde. Am Tage zuvor hatte er zu dieser Stunde friedlich neben Madame Maigret im Ehebett geschlafen.
»Ich habe sofort eine Telefonmünze verlangt, und der Wirt hat sich mißmutig erhoben, als wäre er verärgert über die Störung. Ich habe ihm gesagt, er möchte mir einen Kaffee an irgendeinen Tisch bringen, und bin in die Zelle gegangen.
Nachdem sich Martine gemeldet hatte, haben wir eine ganze Weile geschwatzt. Sie wollte wissen, wo ich war. Ich habe ihr gesagt, daß ich aus einem wunderbar altmodischen Bistro anriefe, in dem nicht eine Katze war. Oder vielmehr doch. Es war dort eine Katze, eine große gefleckte, die auf dem Schoß des Wirts saß. Einen Augenblick war die Rede davon, daß sie auch kommen wollte. Aber ich habe ihr gesagt, ich würde nicht lange bleiben, ich wollte noch ein paar hundert Meter gehen, ehe ich die Metro nähme.«
In Maigret bekam der Polizeibeamte wieder die Oberhand. Sie hatte bestimmt ihre Freundin angerufen, denn das ließ sich nachprüfen. Sie war auch im ›Desiré‹ gewesen, denn dort hatte Maigret sie ein wenig später getroffen. Sie hatte also zweimal telefoniert, einmal mit Martine, das anderemal mit dem Kommissar.
Sie sprach aber nur von einer Münze. Maigret drängte es, zu erfahren, ob noch eine zweite in der Aussage erwähnt wurde.
»Unsere Unterhaltung hat etwa zehn Minuten gedauert, vielleicht etwas länger. Wir hatten uns zwar erst gerade getrennt, aber zwei junge Mädchen finden immer Dinge, die sie sich zu erzählen haben. Man glaubt alles gesagt zu haben, und dann fällt einem ein neues Thema ein.«
Das bedeutete, daß sie zuerst nicht Martine, sondern Maigret angerufen hatte, was diesem Zeit gab, sich anzuziehen, in ein Taxi zu springen und in die Rue de Seine zu fahren.
»Ich habe mich dann an den Tisch gesetzt, auf dem mein Kaffee stand. Der Wirt hatte sich wieder, mit der Katze auf dem Schoß, ans Fenster gesetzt. Auf einem Stuhl lag eine Abendzeitung, und da ich sie noch nicht gelesen hatte, habe ich sie durchgeblättert.
Ich weiß nicht, wie viele Minuten verstrichen sind.«
Auch hier mußte sie mit der eventuellen Zeugenaussage des Wirts rechnen. In jenem Augenblick fragte sie sich gewiß, ob der Kommissar nach der Komödie, die sie ihm am Telefon vorgespielt hatte, kommen würde oder nicht. Die Zeitberechnung war jedenfalls genau.
»Herein!« rief Maigret.
Es war der Kellner der ›Brasserie Dauphine‹, der eine Platte mit belegten Brötchen und zwei Flaschen Bier brachte.
»Stellen Sie es dorthin!«
Er hatte weder Hunger noch Durst. Mit gerunzelter Stirn ging er zur Tür, um sie zu schließen, denn der Kellner hatte sie beim Hinausgehen
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