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Maigret zögert

Maigret zögert

Titel: Maigret zögert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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ebenso gewesen, wenn er so lange Zeit in irgendeiner anderen Familie verbracht hätte?
    Weniger intensiv vielleicht. Aber zweifellos wäre er auf dieselben Gehässigkeiten, dieselbe Engstirnigkeit, dieselben Ängste und in jedem Fall auf denselben Wirrwarr gestoßen.
    Keine Philosophie, Maigret!
    Verbot er sich Grübelei nicht aus Prinzip? Gut. Die beiden Kinder hatte er nicht gesehen, auch nicht die Köchin oder die Putzfrau. Das schwarzgekleidete Zimmermädchen mit der knappen Schürze und dem bestickten Häubchen auf dem Kopf hatte er nur von weitem gesehen.
    Da er sich gerade an der Ecke der Rue du Cirque befand, fiel ihm Doktor Martin ein, der Hausarzt von Parendon.
    »Wieviel macht das?«
    Er sah seine Tafel an der Hauswand, begab sich in den dritten Stock und wurde in ein Wartezimmer geführt, in dem schon drei Personen saßen. Entmutigt wollte er wieder gehen.
    »Warten Sie nicht auf den Doktor?«
    »Ich bin nicht zur Behandlung gekommen. Ich werde ihn anrufen.«
    »Wie ist Ihr Name?«
    »Kommissar Maigret.«
    »Soll ich ihm nicht sagen, dass Sie hier sind?«
    »Ich will seine Patienten nicht noch länger warten lassen.«
    Da war noch der andere Parendon, der Bruder, aber der war auch Arzt, und Maigret wusste durch seinen Freund Pardon nur zu gut, wie es bei den Pariser Ärzten zuging.
    Er hatte keine Lust, mit dem Bus oder der Metro zu fahren. Er fühlte sich schlapp und schwer vor Müdigkeit und ließ sich auf den Rücksitz eines Taxis fallen.
    »Quai des Orfevres.«
    »Ja, Monsieur Maigret.«
    Er konnte sich nicht mehr darüber freuen. Früher war er immer ziemlich stolz gewesen, wenn man ihn überall erkannte, aber seit einigen Jahren fand er es eher lästig.
    Wie würde er dastehen, wenn in der Avenue Marigny nichts passierte? Er hatte es gar nicht erst gewagt, die Briefe beim Rapport zu erwähnen. Seit zwei Tagen vernachlässigte er seinen Schreibtisch, verbrachte er seine Zeit fast ausschließlich in einem Haus, in dem Leute wohnten, deren Leben ihn nichts anging.
    Es liefen noch andere Fälle, keine sehr wichtigen zum Glück, um die er sich aber kümmern musste.
    Waren es die Briefe und der Telefonanruf am Mittag, die das Bild, das er sich von den Leuten machte, entstellten? Er konnte sich Madame Parendon nicht als gewöhnliche Frau vorstellen, wie man sie auf der Straße trifft. Er sah sie wieder vor sich, voller Pathos mitten in all dem Blau ihres Boudoirs und ihres Negligés, ihm eine Art Tragödie vorspielend.
    Auch Parendon war für ihn kein Mann mehr wie jeder andere. Der Gnom blickte ihn aus seinen hellen Augen an, die hinter den dicken Brillengläsern so groß wirkten, und Maigret versuchte vergebens, in ihnen zu lesen.
    Die anderen, Mademoiselle Vague, dieser große rote Teufel Julien Baud, Tortu, der plötzlich zur Tür blickte, in der wie durch ein Wunder Madame Parendon erschien...
    Er zuckte die Schultern, und als das Taxi vor dem Portal der Kriminalpolizei hielt, suchte er in seinen Taschen nach Kleingeld.
    Ein Dutzend Inspektoren, die ihm alle ein Problem zu unterbreiten hatten, suchten ihn in seinem Büro auf. Er sah die Post durch, die während seiner Abwesenheit eingegangen war, unterschrieb einen Stoß Papiere, aber während der ganzen Zeit, die er so in der wohltuenden Ruhe seines Büros arbeitete, blieb das Haus in der Avenue Marigny gleichsam im Hintergrund.
    Er spürte ein Unbehagen, das er nicht zu zerstreuen vermochte. Aber er hatte bisher doch alles getan, was ihm möglich war! Kein Verbrechen, auch kein Vergehen war begangen worden. Niemand hatte aus einem präzisen Grund die Polizei gerufen. Keine Anzeige war erstattet worden.
    Trotzdem hatte er viele Stunden geopfert, um die kleine Welt zu studieren, die um Emile Parendon kreiste.
    Vergebens versuchte er sich an einen ähnlichen Fall aus früherer Zeit zu erinnern. Dabei hatte er wirklich schon die verrücktesten Situationen erlebt!
    Um Viertel nach fünf brachte man ihm einen Rohrpostbrief, der gerade eingetroffen war, und er erkannte die Druckbuchstaben sofort.
    Der Stempel verriet, dass der Brief um vier Uhr dreißig beim Postamt in der Rue de Miromesnil aufgegeben worden war. Also eine Viertelstunde nachdem er das Haus der Parendons verlassen hatte.
    Er schnitt den Faltbrief längs der markierten Linie auf. Wegen des kleineren Formats des Bogens war auch die Schrift kleiner als in den vorausgegangenen Briefen, und als Maigret sie verglich, konnte er feststellen, dass dieser letzte hastiger und weniger sorgfältig,

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