Maigrets Nacht an der Kreuzung
Blick fiel unvermittelt auf das Haus der Michonnets. Er überquerte die Straße und klingelte.
Ein kleines Guckfenster in der Tür öffnete sich.
»Wer ist da?«
»Kommissar Maigret. Ich möchte Monsieur Michonnet sprechen.«
Eine Kette wurde abgenommen, zwei Riegel zurückgeschoben. Ein Schlüssel drehte sich im Schloß. Mad a me Michonnet erschien in der Tür. Sie schien beunruhigt, ja sogar verstört, und sie warf verstohlene Blicke in beide Richtungen der Straße.
»Haben Sie ihn nicht gesehen?«
»Ist er nicht zu Hause?« fragte Maigret mit einem le i sen Hoffnungsschimmer.
»Nun … Ich weiß nicht … Ich … Da ist gerade geschossen worden, nicht wahr? … Aber kommen Sie doch herein!« Sie war etwa vierzig Jahre alt, hatte ein grobes, wenig anziehendes Gesicht. »Monsieur Michonnet ist einen Augenblick hinausgegangen, um …«
Links stand eine Tür auf, die ins Eßzimmer führte. Der Tisch war noch nicht abgeräumt.
»Wie lange ist er schon weg?«
»Ich weiß es nicht. Eine halbe Stunde vielleicht.«
Aus der Küche klangen Geräusche.
»Haben Sie ein Hausmädchen?«
»Nein. Vielleicht ist es die Katze.«
Der Kommissar öffnete die Tür und sah Monsieur Michonnet, der gerade durch die Hintertür hereinkam. Seine Schuhe hingen voller Erde. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Einen Augenblick lang sahen sich die beiden Männer schweigend und verdutzt an.
»Ihre Waffe!« sagte Maigret dann.
»Meine …?«
»Ihre Waffe, schnell!«
Der Versicherungsagent zog einen Trommelrevolver aus seiner Hosentasche und reichte ihn Maigret. Aber alle sechs Kugeln waren vorhanden, und der Lauf war kalt.
»Wo kommen Sie her?«
»Von dort hinten.«
»Was heißt von dort hinten?«
»Hab keine Angst, Emile. Sie werden es nicht wagen, dir etwas anzutun!« mischte sich Madame Michonnet ein. »Das war dann doch die Höhe! Mein Schwager ist Friedensrichter in Carcassonne …«
»Einen Moment, Madame. Ich spreche mit Ihrem Mann … Sie kommen aus Avrainville. Was hatten Sie dort zu tun?«
»Avrainville? Ich?«
Er zitterte. Vergeblich versuchte er, Haltung zu bewahren. Aber seine Verblüffung schien nicht gespielt zu sein.
»Ich schwöre Ihnen, ich komme von dort hinten, vom Haus der Drei Witwen. Ich wollte sie selbst überwachen, weil …«
»Sind Sie nicht auf das Feld hinausgegangen? Haben Sie nichts gehört?«
»War es ein Schuß? Ist jemand getötet worden?«
Seine Schnurrbartspitzen hingen herunter. Er blickte seine Frau an, wie ein kleiner Junge seine Mama bei e i ner drohenden Gefahr anblickt.
»Ich schwöre Ihnen, Kommissar … Ich schwöre Ihnen …«
Er stampfte mit dem Fuß auf den Boden, während sich seine Augen mit Tränen füllten.
»Das ist unerhört!« brach es aus ihm heraus. »Man stiehlt mir meinen Wagen und setzt eine Leiche hinein. Man weigert sich, ihn mir zurückzugeben. Fünfzehn Jahre habe ich gearbeitet, um ihn mir zu leisten zu können! Und jetzt werde ich auch noch beschuldigt …«
»Sei still, Emile! Ich werde mit ihm reden, ich!«
Aber Maigret ließ ihr dazu keine Zeit.
»Haben Sie noch andere Waffen im Haus?«
»Nur diesen Revolver, den wir gekauft haben, als wir die Villa bauen ließen. Und im übrigen sind immer noch dieselben Kugeln darin, die der Waffenhändler h i neingetan hat.«
»Sie kommen vom Haus der Drei Witwen?«
»Ich hatte Angst, man könnte mir mein Auto ein zweites Mal stehlen. Ich wollte selbst Ermittlungen a n stellen. Ich habe mich in den Park geschlichen, das heißt, ich bin über die Mauer geklettert …«
»Haben Sie sie gesehen?«
»Wen? Die beiden Andersens? … Natürlich! Sie sind dort, in ihrem Salon. Sie streiten sich seit einer Stunde!«
»Sie sind dann weggegangen, als Sie den Schuß hörten?«
»Ja. Aber ich war mir nicht sicher, ob es ein Schuß war. Es schien mir nur … Ich war aufgeregt …«
»Haben Sie sonst wen gesehen?«
»Niemanden.«
Maigret ging zur Haustür. Er hatte sie kaum geöffnet, da entdeckte er Monsieur Oscar, der auf ihn zugeeilt kam.
»Ihr Kollege schickt mich, Kommissar. Ich soll Ihnen ausrichten, daß die Frau tot ist. Mein Mechaniker b e nachrichtigt schon die Gendarmerie in Arpajon. Er wird auch einen Arzt mitbringen. Erlauben Sie? Ich kann die Werkstatt nicht allein lassen.«
In Avrainville sah man immer noch das fahle Licht der Scheinwerfer, die einen Teil der Hauswand des Gasthofes beschienen, und Schatten, die sich um ein Auto bewe g ten.
4
Die Gefangene
L
angsam und mit gesenktem Kopf
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