Maigrets Nacht an der Kreuzung
kam auch noch das schwere Parfum der jungen Frau sowie gewisse undeutliche Details: auf einen Sessel hingeworfene Seidenwäsche, eine brennende orientalische Zigarette in einer Porzellanschale, die auf einem kleinen Lacktisch stand, und schließlich Else, in einem granatfarbenen Morgenrock, ausgestreckt auf dem schwarzen Samt des Diwans.
Mit großen Augen sah sie Maigret hereinkommen, und amüsierte Verblüffung, in die sich vielleicht ein le i ses Erschrecken mischte, lag in ihrem Blick.
»Was tun Sie?«
»Ich wollte Sie sprechen. Entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe.«
Sie lachte, und es war ein Kinderlachen. Sie zog ihren Morgenrock über ihre eine entblößte Schulter. Und sie blieb liegen, schmiegte sich geradezu in den Diwan, der, wie der ganze übrige Raum, in gestreiftes Sonnenlicht getaucht war.
»Sie sehen, ich habe nichts Besonderes gemacht. Ich mache nie etwas!«
»Warum haben Sie Ihren Bruder nicht nach Paris begleitet?«
»Er will das nicht. Er behauptet, die Gegenwart einer Frau sei hinderlich bei Verhandlungen unter Geschäft s leuten.«
»Gehen Sie nie aus dem Haus?«
»Doch, ich gehe im Park spazieren.«
»Und sonst?«
»Er ist drei Hektar groß. Das reicht, um mir die Beine zu vertreten, nicht wahr? Aber setzen Sie sich doch, Kommissar. Es amüsiert mich, wie Sie hier so heimlich eingedrungen sind.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Daß mein Bruder ein schön dummes Gesicht machen wird, wenn er heimkommt. Er ist schlimmer als eine Mutter. Schlimmer noch als ein eifersüchtiger Liebhaber. Er hat die Rolle meines Beschützers übernommen, und wie Sie sehen, nimmt er es sehr ernst damit.«
»Ich dachte, Sie seien diejenige, die eingeschlossen werden will, weil Sie sich vor Banditen fürchten.«
»Ja, das auch. Ich habe mich so an die Einsamkeit gewöhnt, daß ich nunmehr Angst vor den Menschen habe.«
Maigret hatte sich in einen Sessel gesetzt und seinen Hut auf den Teppich gelegt. Und jedesmal, wenn Else ihn ansah, wandte er den Kopf ab, weil es ihm nicht g e lang, in diese Augen zu sehen.
Am Tag zuvor war sie ihm lediglich geheimnisvoll erschienen. In dem schummrigen, fast feierlichen Licht, in dem er sie gesehen hatte, hatte sie einer Filmheldin geglichen, und die Unterhaltung hatte etwas Theatral i sches gehabt.
Jetzt war er bemüht, die menschliche Seite dieses W e sens zu entdecken. Doch irgend etwas brachte ihn dabei in Verlegenheit. Es war die Intimität dieser Begegnung.
Der parfümierte Raum, sie im Morgenrock, ausgestreckt auf dem Diwan, der wippende Pantoffel an ihrem nackten Fuß, und Maigret, ein Mann in gesetztem Alter, mit leicht gerötetem Gesicht, den Hut zu seinen Füßen …
Hätten sie nicht ein gutes Bild für ›La Vie Parisienne‹ abgegeben?
Ziemlich ungeschickt steckte er die Pfeife in die Tasche, obwohl er sie nicht ausgeklopft hatte.
»Kurz und gut, Sie langweilen sich hier.«
»Nein … ja … ich weiß nicht. Mochten Sie eine Zigarette?«
Sie deutete auf eine Zigarettenschachtel türkischer Herkunft, auf deren Banderole der Preis von 20 , 65 Francs au f gedruckt war, und Maigret erinnerte sich, daß die beiden im Monat mit zweitausend Francs auskommen mußten, daß Carl Geld brauchte, um seine Miete und die Rec h nungen seiner Lieferanten bezahlen zu können.
»Rauchen Sie viel?«
»Eine oder zwei Schachteln täglich.«
Sie reichte ihm ein feinziseliertes Feuerzeug und hob mit einem tiefen Seufzen die Brust. Ihr Morgenrock klaffte auseinander.
Aber der Kommissar wollte nicht voreilig über sie urteilen. Er hatte unter Gästen in Luxushotels schon pompösere Ausländerinnen gesehen, die ein biederer Kleinbürger gewiß für Dirnen gehalten hätte.
»Ist Ihr Bruder gestern abend ausgegangen?«
»Meinen Sie? Ich weiß es nicht.«
»Haben Sie sich nicht den ganzen Abend mit ihm gestritten?«
Sie lächelte und entblößte dabei ihre wunderschönen Zähne.
»Wer hat Ihnen das gesagt? Er? Wir streiten uns manchmal, aber auf eine gutmütige Art. Nun, gestern habe ich ihm Vorwürfe gemacht, weil er Ihnen gegenüber so ein schlechter Gastgeber war. Er ist so ungesellig! Schon als er noch klein war …«
»Sie haben in Dänemark gelebt?«
»Ja, in einem großen Schloß an der Ostseeküste. Ein sehr tristes Schloß, das unscheinbar in der grauen Heide liegt. Kennen Sie die Gegend? Sie ist ziemlich öde … Und dennoch ist es schön dort.«
Ihr Blick wurde schwer vor Heimweh. Ein sinnlicher Schauder durchfuhr ihren Körper. »Wir waren reich.
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