Maigrets Nacht an der Kreuzung
langsam die näc h ste Steigung.
Am Ortseingang von Avrainville standen drei Autos, und man sah einige Gestalten, die sich bewegten.
»Wollen Sie etwas trinken?«
Mit einem Stirnrunzeln betrachtete Maigret den lächelnden Werkstattbesitzer, der sich nicht entmutigen ließ, ihn zum Trinken einzuladen.
Aber er stopfte sich eine Pfeife und machte sich auf den Weg zum Haus der Drei Witwen, wo in den großen Bäumen Vögel umherflatterten und laut zwitscherten. Er mußte an der Villa der Michonnets vorbei.
Dort waren die Fenster geöffnet. Im Schlafzimmer im ersten Stock sah man Madame Michonnet, die eine Haube auf dem Kopf trug und gerade einen kleinen Teppich ausschüttelte.
Der Versicherungsagent saß ohne Kragen, unrasiert und ungekämmt hinter einem Fenster im Erdgeschoß und sah mit düsterer und zugleich abweisender Miene auf die Straße hinaus. Er rauchte eine Meerschaumpfeife, deren Stiel aus Kirschholz war. Als er den Kommissar erblickte, tat er, als sei er vollauf damit beschäftigt, diese Pfeife zu reinigen, und er vermied es, ihn zu grüßen.
Wenige Augenblicke später klingelte Maigret am Tor des Hauses der Andersens. Zehn Minuten wartete er vergeblich. Alle Fensterläden waren geschlossen. Außer dem beständigen Zwitschern der Vögel, die jeden Baum in eine quirlige Welt verwandelten, hörte man keinen Laut.
Schließlich zuckte er die Schultern, untersuchte das Schloß und wählte einen Dietrich, der den Riegel aufspringen ließ. Und wie am Tag zuvor ging er um das Gebäude herum zu den Glastüren des Salons.
Dort klopfte er an, ebenfalls ohne Erfolg. Aber er blieb stur und trat mit finsterer Miene ein, warf einen Blick auf das offenstehende Grammophon und sah, daß eine Schallplatte aufgelegt war.
Warum er sie spielen ließ? Er hätte es nicht sagen können. Die Nadel kratzte. Ein argentinisches Orchester spielte einen Tango, während Maigret die Treppe hinaufging.
Andersens Zimmer im ersten Stock war nicht verschlossen. Neben dem Kleiderständer entdeckte Maigret ein Paar Schuhe, das ohne Zweifel frisch geputzt war, denn die Bürste und Schuhcreme lagen noch da, und Schmutzkrümel waren über den Boden verstreut.
Der Kommissar hatte die Umrisse der auf dem Feld gefundenen Schuhabdrücke auf ein Blatt Papier gezeichnet. Nun verglich er und stellte absolute Überei n stimmung fest.
Aber er erschrak darüber nicht. Und er schien sich auch nicht zu freuen. Er rauchte die ganze Zeit, und die schlechte Laune, mit der er erwacht war, hielt an.
Eine Frauenstimme rief:
»Bist du es?«
Er zögerte zu antworten. Er sah niemanden. Die Stimme war aus Elses Zimmer erklungen, dessen Tür geschlo s sen war.
»Ich bin’s«, sagte er schließlich so undeutlich wie möglich.
Ein ziemlich langes Schweigen. Dann plötzlich:
»Wer ist da?«
Nun konnte er sich nicht mehr verleugnen.
»Der Kommissar. Ich war gestern schon hier. Ich würde gern ein paar Worte mit Ihnen wechseln, Mademoiselle.«
Wieder ein Schweigen. Maigret versuchte zu erraten, was sie wohl auf der anderen Seite dieser Tür tun moc h te, unter der durch einen schmalen Spalt ein Lichtstre i fen in den Flur kroch.
»Ich höre Ihnen zu«, sagte sie schließlich.
»Wären Sie so nett, mir die Tür zu öffnen? Wenn Sie nicht angezogen sind, warte ich gern.«
Immer wieder dieses ärgerliche Schweigen. Ein kurzes Lachen.
»Sie bitten mich da um eine schwierige Sache, Kommissar!«
»Warum?«
»Weil ich eingeschlossen bin. Sie werden also mit mir sprechen müssen, ohne daß wir uns sehen können.«
»Wer hat Sie eingeschlossen?«
»Mein Bruder Carl. Ich selbst bitte ihn immer darum, wenn er fortgeht, weil ich solche Angst vor Landstre i chern habe.«
Maigret sagte nichts, zog seinen Dietrich aus der Tasche und schob ihn lautlos in das Schloß. Die Kehle schnürte sich ihm ein wenig zu – vielleicht weil es nicht ganz unschuldige Gedanken waren, die ihm dabei durch den Kopf gingen.
Und als das Schloß aufsprang, stieß er die Tür nicht gleich auf, sondern warnte sie lieber vorher:
»Ich komme jetzt herein, Mademoiselle.«
Er hatte ein merkwürdiges Gefühl, als er aus dem sonnenlosen Flur mit den düsteren Wänden in den lichtdurchfluteten Raum trat.
Wohl waren die Fensterläden geschlossen, aber durch die waagrechten Lamellen drangen breite Sonnenstrahlen, so daß das ganze Zimmer wie ein Puzzle aus Licht und Schatten wirkte. Die Wände, die Gegenstände, sogar Elses Gesicht waren wie in leuchtende Streifen g e schnitten.
Und hinzu
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