Maigrets Nacht an der Kreuzung
ging Maigret über das Feld, dem das junge Getreide einen blaßgrünen Schimmer zu verleihen begann.
Es war Morgen. Die Sonne schien, und die Luft vibrierte vom Gezwitscher unsichtbarer Vögel. In Avrainvi l le wartete Lucas vor der Tür des Gasthofes auf die Vertr e ter der Staatsanwaltschaft, während er den Wagen im A u ge behielt, der Madame Goldberg hergebracht hatte. Sie hatte ihn in Paris an der Place de l’Opéra g e mietet.
Die Frau des Antwerpener Diamantenhändlers lag auf einem Eisenbett im ersten Stock. Man hatte ein Tuch über die Leiche gebreitet, die der Arzt in der Nacht halb entkleidet hatte.
Es waren die ersten Stunden eines schönen Apriltages. Dort auf dem Feld, auf dem Maigret dem Mörder vergeblich nachgejagt war, weil ihn die Scheinwerfer g e blendet hatten, und auf dem er jetzt Schritt für Schritt den Spuren von der Nacht folgte, beluden zwei Bauern einen Karren mit Rüben, die sie von einem großen Haufen nahmen, während die Pferde geduldig warteten.
Die Baumreihen beiderseits der Hauptstraße durchschnitten das Panorama. Die roten Zapfsäulen der Tan k stelle glänzten im Sonnenlicht.
Maigret rauchte. Er tat es langsam, beharrlich, vielleicht mißgestimmt. Die Fußspuren auf dem Feld schienen zu beweisen, daß Madame Goldberg von einer Gewehrkugel getötet worden war, denn der Mörder hatte sich dem Gasthof auf nicht mehr als dreißig Meter g e nähert.
Es waren wenig aufschlußreiche Abdrücke von Schuhen mit glatter Sohle und von durchschnittlicher Größe. Die Spur verlief in einem Bogen bis zur Kreuzung der Drei Witwen, wo sie sich an einer Stelle verlor, die vom Haus der Andersens, von der Michonnet-Villa und von der Tankstelle etwa gleich weit entfernt lag.
Aber das bewies gar nichts! Es erbrachte keine neuen Aspekte, und Maigret klemmte fast ein wenig verbissen seine Pfeife zwischen die Zähne, als er auf die Straße h i naustrat.
Er sah Monsieur Oscar unter der Tür stehen, die Hände in die Taschen seiner viel zu weiten Hose gesteckt. Ein alberner Ausdruck stand in seinem vulgären Gesicht.
»Schon auf, Kommissar?« rief er über die Straße.
In diesem Augenblick hielt zwischen der Tankstelle und Maigret ein Wagen. Es war Andersens kleiner 5 CV.
Der Däne, der Handschuhe und einen weichen Hut trug und eine Zigarette im Mund hatte, saß am Steuer. Er nahm den Hut ab und sagte:
»Dürfte ich Sie kurz sprechen, Kommissar?«
Er hatte die Scheibe heruntergekurbelt und fuhr in seiner üblichen korrekten Art fort:
»Ich wollte Sie auf jeden Fall erst um die Erlaubnis bitten, mich nach Paris begeben zu dürfen. Ich hoffte, Sie hier anzutreffen. Ich will Ihnen sagen, was mich dorthin ruft. Wir haben den 15 . April. Am heutigen Tage bekomme ich von Dumas & Fils das Honorar für meine Arbeit. Und außerdem muß ich heute auch meine Miete bezahlen.«
Er entschuldigte sich mit einem vagen Lächeln.
»Recht schäbige Kleinigkeiten, wie Sie sehen, aber auch recht dringliche … Ich brauche das Geld.«
Er nahm kurz das schwarze Monokel ab, um es besser festzuklemmen, und Maigret wandte den Kopf ab, denn er mochte dem starren Blick des Glasauges nicht bege g nen.
»Ihre Schwester?«
»Genau … Darüber wollte ich mit Ihnen noch sprechen. Ist es zuviel verlangt, wenn ich Sie bitte, das Haus im Blick zu behalten?«
Drei schwarze Autos fuhren von Arpajon her die Steigung herauf und bogen nach links in Richtung Avrai n ville ab.
»Wer ist das?«
»Die Staatsanwaltschaft. Madame Goldberg ist heute nacht ermordet worden, als sie vor dem Gasthof aus dem Auto stieg.«
Maigret achtete genau auf seine Reaktion. Auf der anderen Straßenseite schlenderte Monsieur Oscar gemütlich vor seiner Tankstelle auf und ab.
»Ermordet …«, wiederholte Carl.
Und plötzlich nervös:
»Hören Sie, Kommissar! Ich muß nach Paris! Ich kann nicht ohne Geld dastehen, vor allem nicht, wenn die Lieferanten mit ihren Rechnungen kommen. Aber sobald ich wieder zurück bin, will ich bei der Suche nach dem Schuldigen behilflich sein. Sie werden mir das erlauben, nicht wahr? Ich weiß nichts Genaues, aber ich habe so ein Gefühl … Wie soll ich sagen? … Ich ahne irgendwelche Zusammenhänge.«
Er mußte dicht an den Gehweg heranfahren, weil ein aus Paris kommender Lastwagen hupte, um vorbeifa h ren zu können.
»Fahren Sie«, sagte Maigret zu ihm.
Carl grüßte und nahm sich noch die Zeit, eine Zigarette anzuzünden, bevor er startete. Die alte Klapperkiste fuhr den Berg hinunter und erklomm
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