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Maigrets Nacht an der Kreuzung

Maigrets Nacht an der Kreuzung

Titel: Maigrets Nacht an der Kreuzung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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wo das Bild mit der Schneelandschaft war. Es hing jetzt absolut gerade.
    Langsam streckte er die Hand aus und schob den Rahmen beiseite, und so entdeckte er die Aushöhlung in der Mauer, die weder groß noch tief und lediglich durch das Fehlen zweier Ziegelsteine entstanden war.
    In dieser Vertiefung befanden sich ein mit sechs Kugeln geladener automatischer Revolver, eine Büchse mit Patronen, ein Schlüssel und ein Fläschchen Veronalt a bletten.
    Else war ihm mit den Augen gefolgt, aber sie blieb ganz kühl. Eine kleine Spur von Röte lag auf ihren Wangen, ihre Augen glänzten etwas mehr.
    »Ich hätte Ihnen dieses Versteck bestimmt noch gezeigt, Kommissar.«
    »Wirklich?«
    Und damit steckte er den Revolver in seine Tasche, stellte fest, daß das Veronalfläschchen halb leer war, ging zur Tür und probierte den Schlüssel im Schloß, der einwandfrei paßte.
    Die junge Frau hatte sich erhoben. Sie achtete nicht mehr darauf, ihre Brust zu verhüllen. Sie gestikulierte nervös, während sie sagte:
    »Was Sie da gerade entdeckt haben, ist die Bestätigung dessen, was ich Ihnen bereits gesagt habe. Das müssen Sie doch verstehen. Konnte ich meinen Bruder beschuldigen? Wenn ich Ihnen gleich bei Ihrem ersten Besuch gestanden hätte, daß ich ihn seit langem für ve r rückt halte, hätten Sie mein Verhalten als skandalös empfunden … Und doch ist das die Wahrheit.«
    Ihr Akzent war viel stärker, wenn sie aufgeregt war, und er verlieh jedem ihrer Worte einen fremden Klang.
    »Dieser Revolver?«
    »Wie soll ich es Ihnen erklären? Als wir Dänemark verließen, waren wir ruiniert. Aber mein Bruder war überzeugt, daß er mit seiner Bildung in Paris eine wunderbare Arbeit finden würde. Es ist ihm nicht geglückt. Seine Verfassung ist darüber nur noch besorgniserregender geworden. Als er uns hier vergraben wollte, begriff ich, daß er ernstlich erkrankt war. Vor allem, als er darauf bestand, mich jede Nacht in mein Zimmer einzuschli e ßen, weil irgendwelche Feinde uns bedrohen kön n ten! Stellen Sie sich meine Lage vor, eingesperrt in diesen vier Wänden, ohne die Möglichkeit, zum Beispiel bei einem Brand oder jeder sonstigen Katastrophe hinaus gelangen zu können! Ich konnte nicht mehr schlafen. Ich fürchtete mich, als säße ich in einem Verlies.
    Als er einmal in Paris war, ließ ich einen Schlosser ko m men, der mir einen Zimmerschlüssel anfertigte. Ich mußte dazu, weil ich ja eingeschlossen war, durch das Fenster kle t tern.
    Damit war wenigstens meine Bewegungsfreiheit sichergestellt. Aber das reichte nicht. Carl schwebte an manchen Tagen im Halbwahn, oft redete er davon, uns beide lieber umbringen zu wollen, als den vollkomm e nen Zusammenbruch erleben zu müssen.
    Ich kaufte einen Revolver in Arpajon, als mein Bruder wieder einmal nach Paris gefahren war, und weil ich schlecht schlafe, habe ich mir das Veronal besorgt.
    Sie sehen, wie einfach alles ist! Er ist mißtrauisch. Es gibt nichts Mißtrauischeres als einen geistesgestörten Menschen, dessen Verstand jedoch gerade noch klar g e nug ist, um sich dessen bewußt zu sein. Nachts habe ich mir dieses Versteck gebaut …«
    »Ist das alles?«
    Die Brutalität dieser Frage überraschte sie.
    »Sie glauben mir nicht?«
    Er antwortete nicht und ging zum Fenster, öffnete es und schlug die Fensterläden auf. Frische Nachtluft u m fing ihn.
    Die Straße unter ihm war wie ein dunkler Strom, in dem es jedesmal aufblitzte, wenn ein Wagen vorüberfuhr. Man sah die Scheinwerfer schon, wenn sie noch etwa zehn Kilometer entfernt waren. Dann kam plöt z lich etwas wie ein Wirbelsturm heran, ein Luftzug en t stand, ein Brummen, und die kleinen roten Rücklichter verschwanden im Dunkel.
    Die Tankstelle war erleuchtet. In der Michonnet-Villa brannte nur ein Licht im ersten Stock, und immer noch sah man, wie bei einem chinesischen Schattenspiel, den Sessel und den Versicherungsagenten hinter der hellen Gardine.
    »Schließen Sie das Fenster, Kommissar!«
    Er wandte sich um und sah, daß Else fröstelte und ihren Morgenrock eng an sich preßte.
    »Verstehen Sie jetzt, daß ich beunruhigt bin? Sie haben mich dazu gebracht, Ihnen alles zu sagen. Und de n noch würde ich um nichts in der Welt wollen, daß Carl ein Unglück zustößt! Wie oft hat er mir gesagt, wir wü r den gemeinsam sterben.«
    »Seien Sie bitte still!«
    Er lauschte auf die nächtlichen Geräusche. Er hatte seinen Sessel vor das Fenster gerückt und stützte seine Beine auf das Fensterbrett.
    »Aber ich

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