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Maigrets Nacht an der Kreuzung

Maigrets Nacht an der Kreuzung

Titel: Maigrets Nacht an der Kreuzung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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dankbar und immer noch ein wenig ängstlich an.
     
    Als Maigret an dem Haus aus Mühlkalkstein vorbeikam, sah er unwillkürlich zum Fenster im ersten Stock hinauf, das hellgelb aus der Dämmerung stach. Hinter der erleuchteten Gardine zeichnete sich die Gestalt des in seinem Sessel sitzenden Monsieur Michonnet ab.
    Im Gasthof begnügte sich der Kommissar mit einigen Befehlen an Lucas, die er nicht näher erläuterte.
    »Laß ein halbes Dutzend Inspektoren kommen und postiere sie rund um die Kreuzung. Vergewissere dich stündlich durch Anrufe im Escargot und im Theater und im Hotel, daß Monsieur Oscar sich noch in Paris aufhält. Laß jeden verfolgen, der aus einem der drei Häuser kommt.«
    »Wo werden Sie sein?«
    »Bei den Andersens.«
    »Sie glauben, daß …?«
    »Gar nichts, mein Lieber! Bis später oder bis morgen früh!«
    Es war Nacht geworden. Auf seinem Weg zur Hauptstraße prüfte der Kommissar, ob sein Revolver geladen war, und er vergewisserte sich auch, daß er genügend Tabak in seinem Beutel hatte.
    Bei den Michonnets sah man hinter dem Fenster immer noch den Schatten des Sessels und das schnauzbärtige Profil des Versicherungsagenten.
    Else Andersen hatte ihr schwarzes Samtkleid gegen i h ren Morgenrock getauscht und lag auf dem Diwan, als Maigret eintraf. Sie rauchte eine Zigarette und war ruhiger als bei ihrer letzten Begegnung, aber sie machte ein nachdenkliches Gesicht.
    »Wenn Sie wüßten, wie gut es mir tut, Sie hier zu wissen, Kommissar! Es gibt Menschen, die einem vom e r sten Augenblick an Vertrauen einflößen. Aber sie sind selten. Ich jedenfalls habe wenige Leute getroffen, die mir auf Anhieb sympathisch waren … Sie können gern rauchen.«
    »Haben Sie zu Abend gegessen?«
    »Ich habe keinen Hunger. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich lebe. Seit vier Tagen, genau gesagt, seit jener en t setzlichen Entdeckung der Leiche im Auto denke ich nur noch nach … Ich versuche, mir ein Bild zu machen, zu verstehen …«
    »Und Sie kommen zu dem Schluß, daß Ihr Bruder der Schuldige ist?«
    »Nein. Ich will Carl nicht beschuldigen. Um so weniger als er, wenn er im strikten Wortsinn schuldig wäre, die Tat nur in einem Anfall von Wahnsinn begangen haben könnte … Sie haben sich den unbequemsten Se s sel ausgesucht … Sollten Sie sich hinlegen wollen, im Nachbarzimmer steht ein Feldbett.«
    Sie wirkte ruhig und erregt zugleich. Es war eine äußerliche Ruhe, zu der sie sich mit Mühe zwang, und eine Erregung, die gleichwohl in bestimmten Augenbli c ken durchbrach.
    »In diesem Haus hat sich schon einmal eine Tragödie abgespielt, nicht wahr? Carl hat mir flüchtig davon erzählt. Er hat befürchtet, mich damit zu erschrecken. Er behandelt mich immer noch wie ein kleines Mädchen.«
    Sie beugte sich vor, um die Asche ihrer Zigarette über der Porzellanschale auf dem kleinen Tischchen abzuklopfen. Ihr ganzer Körper war dabei in einer geschmeidigen Bewegung begriffen, und wie am Vormittag klaf f te auch jetzt wieder ihr Morgenrock auf. Für einen A u genblick wurde eine kleine, runde Brust sichtbar. Es dauerte nur eine Sekunde, und dennoch hatte Maigret Zeit gehabt, eine Narbe zu entdecken, deren Anblick ihn die Brauen zusammenziehen ließ.
    »Sind Sie einmal verwundet worden?«
    »Was meinen Sie?«
    Sie war rot geworden. Instinktiv raffte sie den Morgenmantel über der Brust zusammen.
    »Sie haben eine Narbe an der rechten Brust.«
    Sie war äußerst verwirrt.
    »Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Ich habe die Angewohnheit, mich hier nur selten richtig anzuziehen. Ich glaubte nicht … Was diese Narbe betrifft … Sehen Sie, wieder ein Detail, an das ich mich plötzlich erinnere. Aber das ist bestimmt bloß eine zufällige Übereinsti m mung. Als wir noch Kinder waren, Carl und ich, spie l ten wir oft im Schloßpark, und ich erinnere mich, daß Carl einmal zum Nikolaustag ein Gewehr geschenkt b e kam. Er muß damals vierzehn Jahre alt gewesen sein. Es ist lächerlich, Sie werden sehen. Anfangs schoß er auf eine Zielscheibe. Eines Abends besuchten wir einen Zirkus, und am nächsten Tag wollte er unbedingt Wilhelm Teil spielen. Ich hielt in jeder Hand ein Stück Pappe … Die erste Kugel traf mich in die Brust …«
    Maigret war aufgestanden und trat auf den Diwan zu. Er machte ein so undurchdringliches Gesicht, daß es sie beunruhigte und sie ihren Morgenrock mit beiden Händen an sich preßte.
    Aber sein Blick war nicht auf sie gerichtet. Er starrte auf die Wand über dem Diwan, auf die Stelle,

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