Maigrets Nacht an der Kreuzung
sage Ihnen doch, ich friere!«
»Decken Sie sich zu!«
»Glauben Sie mir nicht?«
»Halten Sie den Mund, verflucht!«
Er begann zu rauchen. In der Ferne vernahm man undeutliche Geräusche von einem Gehöft; das Muhen einer Kuh und andere verworrene Laute. Aus der Reparaturwerkstatt hingegen hörte man metallenes Hä m mern und plötzlich den Elektromotor, der zum Au f pumpen der Reifen diente.
»Und ich habe Ihnen vertraut! Das habe ich nun davon!«
»Werden Sie jetzt endlich still sein, ja oder nein?«
Hinter einem Baum an der Straße in der Nähe des Hauses hatte er einen Schatten erspäht. Es mußte sich um einen der Inspektoren handeln, die er herbestellt hatte.
»Ich habe Hunger.«
Wütend drehte er sich um und sah der jungen Frau ins Gesicht, die ganz erbärmlich dreinschaute.
»Holen Sie sich etwas zu essen.«
»Ich traue mich nicht hinunter. Ich habe Angst.«
Er zuckte die Schultern und überzeugte sich, daß draußen alles ruhig war. Einem plötzlichen Entschluß folgend begab er sich ins Erdgeschoß. Er wußte, wo die Küche war. Neben dem Spirituskocher lag ein Rest ka l tes Fleisch und Brot, und eine angebrochene Flasche Bier stand auch da.
Er brachte alles hinauf und stellte das Essen auf das kleine Tischchen neben den Aschenbecher.
»Sie sind nicht nett zu mir, Kommissar …«
Sie wirkte wirklich wie ein kleines Mädchen, und man spürte, daß sie den Tränen nahe war.
»Ich kann es mir nicht erlauben, grob oder nett zu sein … Essen Sie!«
»Haben Sie keinen Hunger? Sind Sie mir böse, weil ich Ihnen die Wahrheit gesagt habe?«
Aber er wandte ihr schon wieder den Rücken zu und blickte aus dem Fenster. Er sah Madame Michonnet hinter der Gardine, wie sie sich über ihren Mann beugte und ihm eine Arznei zu verabreichen schien, denn sie hielt ihm einen Löffel vor den Mund.
Else hatte mit den Fingerspitzen ein Stück von dem kalten Kalbfleisch ergriffen und kaute lustlos darauf herum. Dann goß sie sich ein Glas Bier ein.
»Es ist schlecht!« erklärte sie und schüttelte sich vor Ekel. »Aber warum schließen Sie dieses Fenster nicht? Ich habe Angst! Haben Sie überhaupt kein Mitleid?«
Unwirsch schlug er das Fenster zu und musterte Else mit grimmiger Miene von Kopf bis Fuß.
Und plötzlich fiel ihm auf, daß sie erblaßte, daß sich ihre blauen Augen trübten und ihre Hand sich haltsuchend ausstreckte. Er gelangte gerade noch rechtzeitig zu ihr, um ihr seinen Arm um die Taille zu legen, ehe sie zusammenbrach.
Er ließ sie sanft auf den Fußboden gleiten. Er hob ihre Lider an, um ihre Augen zu untersuchen, langte mit einer Hand nach dem leeren Bierglas und schnupperte daran. Ein bitterer Geruch stieg ihm in die Nase.
Auf dem Tischchen lag ein Kaffeelöffel. Er nahm ihn und preßte ihn Else zwischen die Zähne. Dann schob er ihr ohne zu zögern den Stiel tief in den Rachen und rei z te damit ihre Gurgel.
Ihr Gesicht verzerrte sich. Ihre Brust bäumte sich in Krämpfen auf.
Else lag ausgestreckt auf dem Teppich. Ihre Augen tränten. Als ihr Kopf zur Seite fiel, rülpste sie laut.
Ihr Magen entleerte sich dank der Krämpfe, die der Löffel ausgelöst hatte. Etwas gelbe Flüssigkeit befleckte den Boden, und ein paar Tropfen fielen auf den Morge n rock.
Maigret nahm den Krug vom Waschtisch und goß ihr Wasser übers Gesicht.
Dabei blickte er immer wieder ungeduldig zum Fenster hin.
Es dauerte lange, bis sie wieder zu sich kam. Dann stöhnte sie schwach und hob schließlich den Kopf.
»Was ist denn …«
Verwirrt und noch taumelnd richtete sie sich auf, sah den beschmutzten Teppich, den Löffel, das Bierglas. Und begann zu schluchzen, den Kopf in die Hände g e stützt.
»Sie sehen, ich hatte Grund, Angst zu haben! Man hat versucht, mich zu vergiften! Und Sie wollten mir nicht glauben! … Sie …«
Sie zuckte im gleichen Moment wie Maigret zusammen. Einen langen Augenblick rührten sie sich beide nicht und spitzten die Ohren.
Unweit des Hauses, wahrscheinlich im Garten, war ein Schuß gefallen, und diesem war ein heiserer Schrei gefolgt.
Und auf der Straßenseite ertönte ein schriller langer Pfiff. Leute rannten umher. Jemand rüttelte am Tor. Maigret sah durch das Fenster die Taschenlampen seiner Inspektoren aufblinken, mit denen sie das Dunkel a b suchten. Kaum hundert Meter weiter das Fenster der Michonnets und Madame Michonnet, die das Kopfki s sen ihres Mannes aufschüttelte.
Der Kommissar öffnete die Tür. Im Erdgeschoß hörte er Lärm. Lucas rief zu ihm
Weitere Kostenlose Bücher