Maigrets Nacht an der Kreuzung
Werkstattbesitzer hat sich in elegante Kle i dung geworfen, und ich habe ihn gefragt, wohin er g e he. Anscheinend fährt er gewöhnlich einmal in der Woche mit seiner Frau zum Abendessen nach Paris und geht anschließend ins Theater. Sie übernachten dann im Hotel und kehren erst am nächsten Tag zurück.«
»Ist er schon weg?«
»Inzwischen wird er wohl abgefahren sein, ja.«
»Hast du ihn gefragt, in welchem Restaurant er zu Abend ißt?«
»Im Escargot, Rue de la Bastille. Danach geht er ins Ambigu. Er übernachtet im Hotel Rambuteau, Rue de Rivoli.«
»Sehr präzise«, murmelte Maigret, während er sich mit dem Kamm durchs Haar fuhr.
»Der Versicherungsagent ließ mir durch seine Frau ausrichten, daß er Sie sprechen oder vielmehr, um mit ihren Worten zu reden, sich mit Ihnen unterhalten möchte.«
»Ist das alles?«
Maigret ging in die Küche, wo die Wirtsfrau das Abendessen vorbereitete. Er entdeckte eine große Schü s sel mit Pastete, schnitt sich eine dicke Scheibe Brot herunter und sagte:
»Einen Schoppen Weißen, bitte!«
»Bleiben Sie nicht zum Abendessen?«
Er gab ihr keine Antwort und verschlang sein riesiges Sandwich.
Der Inspektor schaute ihm zu. Er hatte offensichtlich das dringende Bedürfnis, etwas zu sagen.
»Sie rechnen mit einem wichtigen Ereignis heute nacht, nicht wahr?«
»Hm!«
Aber warum es abstreiten? Deutete diese Mahlzeit im Stehen nicht bereits auf Alarmbereitschaft?
»Ich habe vorhin nachgedacht. Ich habe versucht, Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Es ist nicht einfach …«
Maigret blickte ihn ruhig an, während er weiterkaute.
»Am meisten verwirrt mich immer noch dieses Mädchen. Manchmal denke ich, daß alle in ihrer Umgebung, der Werkstattbesitzer, der Versicherungsagent und der Däne schuldig sind, nur sie nicht. Dann wieder bin ich bereit, das Gegenteil zu beschwören und anzune h men, daß sie hier das einzige böse Element ist!«
Heiterkeit lag in den Augen des Kommissars, der zu sagen schien: Nur weiter so!
»In manchen Augenblicken wirkt sie wahrhaftig wie eine junge Adelige. Aber es gibt auch Momente, da erinnert sie mich an meine Zeit bei der Sittenpolizei. Sie wissen, was ich meine. Diese Mädchen, die einem mit unglaublicher Kaltblütigkeit die ungeheuerlichsten Geschichten erzählen, deren Einzelheiten so erschütternd sind, daß man von ihrer Wahrheit überzeugt ist. Man glaubt ihnen also. Später findet man unter ihrem Kopfkissen einen alten Roman, und man entdeckt, daß alle Einzelheiten ihrer Geschichte aus ihm stammen. Frauen, die so selbstverständlich lügen, wie sie atmen, die schließlich vielleicht selbst an ihre Lügen glauben!«
»Ist das alles?«
»Glauben Sie, ich täusche mich?«
»Ich glaube überhaupt nichts!«
»Wissen Sie, eine feste Meinung habe ich eigentlich nicht, und die allermeisten Gedanken macht mir immer noch Andersen. Stellen Sie sich einen Mann wie ihn, kult i viert, vornehm, intelligent, als den Kopf einer Ba n de vor!«
»Wir werden ihn heute abend sehen.«
»Ihn? Aber er ist doch über der Grenze!«
»Hm.«
»Sie glauben, daß …«
»Daß die Geschichte gut zehnmal komplizierter ist, als du sie dir denkst. Und wenn man sich nicht zu sehr verzetteln will, ist es besser, nur einige wichtige Eleme n te im Auge zu behalten.
Nimm zum Beispiel Monsieur Michonnet, der als erster Anzeige erstattet hat und der mich heute abend zu sich kommen läßt. Ausgerechnet heute abend, wo der Werkstattbesitzer in Paris ist! Sehr auffällig!
Goldbergs Minerva ist verschwunden, denk auch daran! Und da es in Frankreich nicht viele solche Sportwagen gibt, ist es gar nicht so einfach, ihn spurlos ve r schwinden zu lassen.«
»Glauben Sie, Monsieur Oscar …?«
»Langsam! Laß es mit diesen drei Punkten gut sein und denk über sie nach, wenn du Lust hast.«
»Aber Else?«
»Schon wieder?«
Und Maigret wischte sich den Mund ab und ging hinaus auf die Hauptstraße. Eine Viertelstunde später klingelte er an der Tür der Michonnet-Villa, und es war die Frau, die ihn mit unfreundlichem Gesicht in Em p fang nahm.
»Mein Mann erwartet Sie oben.«
»Er ist zu liebenswürdig.«
Sie wurde der Ironie seiner Worte nicht gewahr und stieg vor ihm die Treppe hinauf. Monsieur Michonnet war in seinem Schlafzimmer. Er saß neben dem Fenster, dessen Gardinen vorgezogen waren, in einem Voltaire-Sessel und hatte eine Decke um die Beine geschlagen. In aggressivem Ton fragte er:
»Nun, wann wird man mir einen Wagen zur Verfügung stellen?
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