Maigrets Nacht an der Kreuzung
Halten Sie es vielleicht für richtig, einen Me n schen an seinem Broterwerb zu hindern? Die ganze Zeit machen Sie dieser Kreatur von gegenüber den Hof oder trinken Aperitifs mit dem Werkstattbesitzer! Reizend, die Polizei! Ich sage Ihnen, was ich denke, Kommissar. Ja, re i zend ist sie! Der Mörder ist unwichtig! Hauptsache, man vergällt den anständigen Leuten das Leben! Ich habe einen Wagen. Er gehört mir, ja oder nein? Ich frage Sie! Antworten Sie! Gehört er mir? … Gut. Mit welchem Recht enthalten Sie ihn mir vor?«
»Sind Sie krank?« fragte Maigret ruhig mit einem Blick auf die Decke, die um die Beine des Versicherungsagenten gewickelt war.
»Es ist ja auch zum Krankwerden! Ich rege mich auf, und das schlägt bei mir auf die Beine. Ein Gichtanfall. Jetzt kann ich zwei oder drei Nächte ohne Schlaf in di e sem Sessel zubringen. Wenn ich Sie habe kommen la s sen, dann um Ihnen folgendes zu sagen: Sie sehen, in welchem Zustand ich bin! Sie sehen, daß ich arbeitsu n fähig bin, vor allem ohne Wagen! Das genügt! Ich we r de Sie als Zeugen nennen, wenn ich wegen der Sch a denersatzforderung vor Gericht gehe. Leben Sie wohl, Mons i eur!«
Dieser ganze Vortrag klang wie aus dem Munde eines trotzigen Pennälers, der sich im Recht glaubt. Madame Michonnet fügte noch hinzu:
»Während Sie hinter uns herschnüffeln, läuft der Mörder immer noch frei herum So ist die Justiz! Immer auf die Kleinen, aber Hut ab vor den Großen!«
»Ist das alles, was Sie mir zu sagen haben?«
Monsieur Michonnet grub sich mit eisigem Blick noch tiefer in seinen Sessel. Seine Frau ging zur Tür.
Das Innere des Hauses paßte zu seinem Äußeren: saubere, schönpolierte Fabrikmöbel, die dastanden, als würden sie nie benutzt.
Im Flur blieb Maigret vor dem Telefonapparat stehen. Es war ein altmodisches Modell und hing an der Wand. In Gegenwart der empörten Madame Michonnet drehte er die Kurbel.
»Hier ist die Kriminalpolizei, Mademoiselle. Können Sie mir bitte sagen, ob Sie heute nachmittag Anrufe für die Kreuzung der Drei Witwen erhalten haben? Zwei Nummern, sagen Sie, haben Sie angewählt? Die Tankstelle und das Haus der Michonnets? Gut! Ja? Die Tan k stelle wurde einmal gegen ein Uhr und dann noch einmal gegen fünf angerufen? Und die andere Nummer? Nur ein Gespräch? Aus Paris. Siebzehn Uhr fünf? … Ich danke Ihnen.«
Seine Augen funkelten listig, als er sich vor Madame Michonnet verneigte.
»Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nacht, Madame.«
In bereits gewohnter Manier öffnete er das Tor zum Haus der Drei Witwen, ging um das Gebäude herum und stieg in den ersten Stock hinauf.
Else Andersen kam ihm sehr erregt entgegen.
»Bitte verzeihen Sie, daß ich Sie beunruhigt habe, Kommissar! Sie werden glauben, ich übertreibe … Aber ich bin sehr nervös. Ich habe Angst, ich weiß nicht, warum … Seit unserer letzten Unterhaltung habe ich das Gefühl, nur Sie allein können mich vor einem U n glück bewahren. Sie kennen diese düstere Kreuzung jetzt ebensogut wie ich, diese drei Häuser, die sich gegenseitig herauszufordern scheinen. Glauben Sie an Vorahnu n gen? Ich glaube daran, wie alle Frauen. Ich fühle, daß diese Nacht nicht ohne Drama vorübergehen wird.«
»Und Sie wollen mich neuerlich darum bitten, bei Ihnen Wache zu halten?«
»Ich übertreibe, nicht wahr? … Kann ich etwas dafür, wenn ich Angst habe?«
Maigrets Blick war auf einem schiefhängenden Bild mit einer Schneelandschaft haftengeblieben, aber schon einen Augenblick später wandte er sich der jungen Frau zu, die auf seine Antwort wartete.
»Fürchten Sie nicht um Ihren Ruf?«
»Kommt es darauf an, wenn man Angst hat?«
»Wenn es so ist … ich bin in einer Stunde wieder da. Ich habe noch einige Anweisungen zu geben.«
»Wirklich wahr? Sie werden wiederkommen? Versprochen? Übrigens muß ich Ihnen noch eine Menge erzä h len, Dinge, die mir nach und nach noch eingefallen sind.«
»Bezüglich?«
»Bezüglich meines Bruders. Aber wahrscheinlich nichts von Belang. Sehen Sie, ich erinnere mich zum Beispiel daran, daß der Arzt, der ihn nach seinem Flugzeugabsturz behandelte, zu meinem Vater sagte, er kö n ne sich zwar für die physische Genesung des Verwund e ten verbürgen, nicht aber für die geistige. Ich hatte über diese Worte nie nachgedacht. Es gibt noch mehr Einze l heiten, sein Wunsch, fern von der Stadt zu wohnen, ein Leben im verborgenen zu führen … Ich werde Ihnen das alles sagen, wenn Sie zurückkommen.«
Sie lächelte ihn
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