Maigrets Nacht an der Kreuzung
Dreimal nahm er Anlauf und warf sich gegen die Tür, die schließlich nachgab und aus den Angeln gerissen wurde.
»Langsam … Vorsicht …«
Sie hatten beide eine Waffe in der Hand. Zuerst knipsten sie den Lichtschalter im Eßzimmer an. Auf dem Tisch, über den eine rotkarierte Tischdecke gebreitet war, standen noch die schmutzigen Teller vom Abendessen und eine Karaffe, die einen Rest Weißwein enthielt. Maigret setzte die Karaffe an den Mund und trank sie leer.
Im Wohnzimmer fanden sie nichts. Über die Sessel waren Schonbezüge gezogen, und es herrschte die stick i ge Luft eines nie benutzten Raumes.
In der weißgekachelten Küche begegneten sie nur einer Katze, die sich schnell in Sicherheit brachte.
Der Polizist blickte Maigret unruhig an. Sie stiegen die Treppe hinauf und gelangten in den ersten Stock, wo sich drei Türen befanden.
Der Kommissar öffnete die Tür des zur Straße hin liegenden Zimmers. Ein Luftzug, der durch das zersprungene Fenster entstand, blähte die Gardine auf. In dem Sessel entdeckten sie etwas Groteskes: einen schräg liegenden Besenstiel mit einer Kugel aus Lappen am oberen Ende, das über die Rückenlehne hinausragte, so daß, blickte man von außen gegen das erleuchtete Fenster, die Silhouette eines Kopfes entstand.
Maigret verzog keine Miene, öffnete die Verbindungstür, knipste das Licht an und fand ein zweites Schla f zimmer, das ebenfalls leer war.
Oberste Etage. Eine Mansarde. Auf dem Fußboden lagerten mit jeweils zwei oder drei Zentimetern Abstand Äpfel, und am Dachbalken hingen gebündelte grüne Bohnen. Es gab eine weitere Kammer, die gewiß als Mädchenzimmer gedacht war, aber nicht benutzt wurde, denn es stand nur ein alter Nachttisch darin.
Sie stiegen wieder hinunter. Maigret ging durch die Küche auf den Hinterhof hinaus, der nach Osten lag. Von hier aus sah man schon den grauen Schein der Morgendämmerung.
Ein kleiner Schuppen. Eine Tür, die sich bewegte. »Wer da?« stieß er drohend aus und schwang seinen R e volver.
Ein Schreckensschrei. Die Tür, die von innen losgelassen wurde, sprang von selbst auf, und sie sahen eine Frau, die auf die Knie fiel und rief:
»Ich habe nichts getan! Oh, bitte! Ich … ich …«
Es war Madame Michonnet. Ihre Haare waren zerzaust, ihr Kleid vom Wandputz im Schuppen verschmiert.
»Ihr Mann?«
»Ich weiß nicht! Ich schwöre, ich weiß nichts! Oh, welch ein Unglück!«
Sie weinte. Ihr ganzer massiger Körper schien zu erschlaffen, zu zerfließen. Ihr Gesicht wirkte zehn Jahre älter, war aufgedunsen durch die Tränen, entstellt von Angst.
»Ich war es nicht! Ich habe nichts getan! Es war dieser Mann von gegenüber!«
»Welcher Mann?«
»Der Ausländer! Ich weiß nichts! Aber er war es, da können Sie sicher sein! Mein Mann ist weder ein Mörder noch ein Dieb, er hat immer ein ehrbares Leben geführt. Er war es! Der mit seinem bösen Auge! Seit er sich an der Kreuzung niedergelassen hat, geht alles schlecht … Ich …«
Ein Hühnerhof war voll mit weißen Hühnern, die nach dicken gelben Maiskörnern auf dem Boden pickten. Die Katze kauerte auf einer Fensterbank, ihre A u gen funkelten im Halbdunkel.
»Stehen Sie auf!«
»Was werden Sie mit mir tun? Wer hat geschossen?«
Es war erbärmlich. Sie war fast fünfzig Jahre alt und heulte wie ein Kind. Sie hatte so sehr die Fassung verl o ren, daß sie sich fast in Maigrets Arme geworfen hätte, als dieser ihr aufhalf und ihr mechanisch die Schulter tätschelte. Aber dann lehnte sie nur ihren Kopf gegen die Brust des Kommissars, klammerte sich ans Revers seiner Jacke und wimmerte:
»Ich bin nur eine arme Frau! Mein ganzes Leben habe ich gearbeitet! Vor meiner Hochzeit war ich Kassiererin im größten Hotel in Montpellier …«
Maigret schob sie von sich, aber er konnte ihrem Wehklagen kein Ende setzen.
»Ich hätte besser daran getan, das zu bleiben, was ich war. Denn man schätzte mich. Ich weiß noch, wie mir mein Chef, der viel von mir hielt, bei meinem Weggang prophezeite, ich würde mich noch nach seinem Haus zurücksehnen … Und es stimmt! Ich habe hier mehr schuften müssen als je zuvor!«
Wieder zerfloß sie in Tränen. Und der Anblick ihrer Katze steigerte noch ihren Kummer.
»Arme Mitsou! Du kannst auch nichts dafür! Und meine Hühner, meine kleine Küche, mein Haus! Hören Sie, Kommissar, ich glaube, ich wäre fähig, diesen Mann zu töten, wenn er vor mir stünde! Ich habe es am ersten Tag, als ich ihn gesehen habe, gespürt! Schon sein schwarzes
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