Maigrets Nacht an der Kreuzung
Auge …«
»Wo ist Ihr Mann?«
»Was weiß ich!«
»Er ist gestern am frühen Abend weggegangen, nicht wahr? Und zwar gleich nach meinem Besuch! Er war ebensowenig krank wie ich!«
Sie wußte keine Antwort darauf. Verlegen blickte sie um sich, als suchte sie eine Stütze.
»Er hat wirklich Gicht.«
»War Mademoiselle Else schon einmal hier?«
»Nie!« rief sie empört aus. »Derlei Kreaturen kommen mir nicht ins Haus!«
»Und Monsieur Oscar?«
»Haben Sie ihn festgenommen?«
»Beinahe.«
»Er hat den Wagen auch nicht gestohlen. Mein Mann hätte nie diese Leute treffen dürfen, deren Welt nicht die unsrige ist, denen jegliche Erziehung abgeht! Ach, wenn man nur auf die Frauen hören würde! Sagen Sie, was, glauben Sie, wird jetzt geschehen? Ich höre die ganze Zeit Schüsse. Wenn meinem Mann etwas zustieße, wü r de ich wohl sterben vor Scham. Überdies bin ich zu alt, um noch eine eigene Arbeit zu finden …«
»Gehen Sie ins Haus zurück.«
»Was soll ich tun?«
»Trinken Sie etwas Heißes. Warten Sie. Schlafen Sie, wenn Sie können.«
»Schlafen?«
Und bei diesem Wort gab es einen neuen Tränenausbruch, einen richtigen Weinkrampf, aber sie mußte ihn allein überwinden, denn die beiden Männer waren hinausgegangen.
Doch Maigret kehrte noch einmal zurück und nahm den Telefonhörer ab.
»Hallo! Arpajon? … Polizei! Würden Sie mir bitte s a gen, welche Nummer im Lauf der Nacht von dieser Le i tung aus verlangt worden ist?«
Er mußte ein paar Minuten warten, bis er die Antwort erhielt:
»Archives 27 – 45 . Das ist ein großes Café an der Porte Saint-Martin.«
»Ich weiß. Hatten Sie noch weitere Gespräche für die Kreuzung der Drei Witwen?«
»Gerade eben. Aus der Werkstatt wurde um Verbindung mit den Gendarmerien gebeten.«
»Danke.«
Als Maigret Inspektor Grandjean auf der Straße eingeholt hatte, begann ein feiner, nebelartiger Nieselregen. Aber am Himmel wurde es trotzdem heller.
»Kennen Sie sich noch aus in all dem, Kommissar?«
»Einigermaßen.«
»Diese Frau macht uns was vor, nicht wahr?«
»Sie ist der aufrichtigste Mensch, der sich denken läßt!«
»Dennoch, ihr Mann …«
»Nun, bei dem liegt der Fall anders. Ein anständiger Mann, der auf die schiefe Bahn geraten ist. Oder, wenn dir das lieber ist, ein Lump, der seiner Herkunft nach ein anständiger Mann hätte werden müssen. Es gibt nichts Umständlicheres als ihn! Zerbricht sich stundenlang den Kopf, wie er sich aus der Affäre ziehen kann. Erfindet die kompliziertesten Geschichten. Spielt seine Rolle perfekt. Man müßte zum Beispiel noch herausfinden, was ihn zu einem bestimmten Zeitpunkt in se i nem Leben bewogen hat, ein Lump zu werden, wenn ich so sagen darf. Und es bleibt schließlich auch noch in Erfahrung zu bringen, was er sich von dieser Nacht wohl erhofft hat …«
Maigret stopfte seine Pfeife und ging auf das Tor des Hauses der Drei Witwen zu, vor dem ein Polizist Wache hielt.
»Nichts Neues?«
»Ich glaube, sie haben noch nichts gefunden. Der Park ist umzingelt, aber bis jetzt war niemand zu sehen.«
Die beiden Männer gingen um das Gebäude herum, das in der Dämmerung gelblich schimmerte und dessen bauliche Besonderheiten sich abzuzeichnen begannen.
Im Salon war alles genauso wie bei Maigrets erstem Besuch. Auf der großen Staffelei lehnte immer noch die Skizze eines Stoffmusters mit großen, purpurfarbenen Blumen. Das Licht, das auf eine Schallplatte im Gra m mophon fiel, spiegelte sich an der Wand in der Form eines Diabolospiels. Das Morgenlicht sickerte wie zerri s sene Dunstschwaden allmählich in jeden Winkel des Raumes.
Auf der Treppe knarrte wieder dieselbe Stufe. Man hörte Carl Andersen in seinem Zimmer stöhnen, doch als der Kommissar eintrat, verstummte er, bezwang seinen Schmerz, nicht aber seine Unruhe, und stammelte:
»Wo ist Else?«
»In ihrem Zimmer.«
»Ach.«
Es schien ihn zu beruhigen. Er seufzte und befühlte stirnrunzelnd seine Schulter.
»Ich glaube, ich werde nicht daran sterben.«
Am schlimmsten war sein Glasauge anzusehen, weil es an der lebhaften Mimik nicht teilnahm. Es blieb klar und durchsichtig und starrte einen groß an, während alle anderen Gesichtsmuskeln zuckten.
»Es ist mir lieber, wenn sie mich so nicht sieht. Glauben Sie, daß meine Schulter wieder in Ordnung kommt? Ist auch ein guter Chirurg herbestellt worden?«
Auch er wurde wie Madame Michonnet in seiner Angst zum Kind. Sein Blick war flehend. Er wollte b e ruhigt werden. Die meisten Sorgen
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