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Maigrets Nacht an der Kreuzung

Maigrets Nacht an der Kreuzung

Titel: Maigrets Nacht an der Kreuzung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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schien er sich jedoch um seine Gesundheit zu machen, um die Spuren, die die Ereignisse auf seinem Äußeren hinterlassen könnten.
    Andererseits bewies er eine außerordentliche Willenskraft, eine bemerkenswerte Fähigkeit, den Schmerz zu überwinden. Maigret, der seine beiden Wunden gesehen hatte und sich auskannte, wußte dies zu schätzen.
    »Sagen Sie Else …«
    »Wollen Sie sie nicht sehen?«
    »Nein! Besser nicht! Aber sagen Sie ihr, daß ich hier bin, daß ich wieder gesund werde, daß … daß ich bei klarem Verstand bin und daß sie Vertrauen haben muß … Wiederholen Sie ihr dieses Wort: Vertrauen! Sie soll in der Bibel lesen. Die Geschichte von Hiob zum Beispiel … Sie lachen darüber, weil ihr Franzosen die Bibel nicht kennt! … Vertrauen! … und kenne die Meinen … So spricht Gott. Gott kennt die Seinen. Sagen Sie ihr das! Und auch: Also wird auch Freude im Himmel sein über … Sie wird es verstehen. Und: Der Gerechte wird neunmal täglich geprüft … «
    Es war unglaublich! Verwundet, am ganzen Körper leidend, schwer darniederliegend, zitierte er den beiden Polizeibeamten mit klarer Stimme Sprüche aus der He i ligen Schrift.
    »Vertrauen! Sie werden es ihr sagen, nicht wahr? Denn einzig wer reinen Herzens ist, kann anderen ein Vorbild sein!«
    Sein Blick verdüsterte sich. Er hatte das Lächeln bemerkt, das über Inspektor Grandjeans Lippen huschte. Und er murmelte verächtlich vor sich hin:
    »Franzose!«
    Franzose! Mit anderen Worten: Gottloser! Oder: Skeptiker, Leichtgläubiger, Nörgler, Sünder!
    Entmutigt drehte er sich zur Wand und starrte sie mit seinem gesunden Auge an.
     
    »Sagen Sie ihr …«
    Aber als Maigret und sein Begleiter die Tür zu Elses Zimmer aufstießen, sahen sie niemanden.
    Eine Luft wie im Treibhaus! Eine dicke Wolke vom Qualm heller Zigaretten. Eine so greifbar frauliche Atmosphäre, daß jeder Mann, zumal ein junger, hier se i nen Verstand verlieren konnte.
    Aber niemand war da. Das Fenster war geschlossen. Dort war Else also nicht hinausgestiegen.
    Das Bild, das die Mauernische mit dem Arzneifläschchen, dem Schlüssel und dem Revolver verbarg, hing an seinem Platz.
    Maigret schob es zur Seite. Der Revolver fehlte.
    »Nun sieh mich doch nicht so an, verdammt noch mal!« schnauzte er den Inspektor wütend an, der hinter ihm stand und ihn baff vor Bewunderung anglotzte.
    Und in diesem Augenblick krachte etwas im Mund des Kommissars. Er hatte das Mundstück seiner Pfeife durchgebissen, und der Pfeifenkopf rollte auf den Teppich.
    »Ist sie geflohen?«
    »Schweig!«
    Er war ungerecht in seinem Zorn. Grandjean war bestürzt und wagte sich nicht mehr zur rühren.
    Es war noch nicht ganz hell. Immer noch schwebte dieser graue Dunst über dem Erdboden und verbrämte das Tageslicht. Der Bäcker fuhr in seinem alten Ford vorüber, dessen Vorderräder im Zickzack über den Teer rollten.
    Plötzlich wandte sich Maigret um, rannte durch den Flur und die Treppe hinab. Genau in dem Augenblick, als er im Salon ankam, dessen beide Glastüren weit aufstanden, erscholl ein entsetzlicher Schrei, ein Todesschrei, ein lautes Jammern wie das Wehklagen eines le i denden Tieres.
    Es war eine Frau, die da schrie und deren Stimme durch irgendein unbekanntes Hindernis gedämpft wurde. Es konnte sehr weit weg oder sehr nah sein. Es konnte vom Dach oder aus dem Keller kommen.
    Und man hörte die Todesangst so deutlich heraus, daß der vor dem Tor wachende Polizist mit entsetztem Gesicht herbeilief.
    »Kommissar! Haben Sie gehört? …«
    »Ruhe! Zum Teufel noch mal!« brüllte Maigret überreizt.
    Und er hatte den Mund noch nicht geschlossen, da fiel ein Schuß. Aber es war ein so dumpfer Knall, daß niemand sagen konnte, ob er von links oder von rechts, aus dem Park oder aus dem Haus, aus dem Wald oder von der Straße her kam.
    Gleich darauf hörte man Schritte auf der Treppe. Carl Andersen kam, völlig verstört, herunter. Er hielt sich e i ne Hand auf die Brust und schrie wie ein Irrrer:
    »Das ist sie!«
    Er keuchte. Sein Glasauge blickte starr. Man konnte nicht sagen, wen er mit dem anderen, weit aufgerissenen gesunden Auge ansah.
    9
    Die Männer mit dem Rücken zur Wand
    E
    s vergingen ein paar Sekunden, in denen die letzten Echos der Detonation verhallten. Man wartete auf einen weiteren Schuß. Carl Andersen schwankte hinaus und erreichte den Kiesweg.
    Einer der Polizisten, die im Park Wache hielten, rannte plötzlich zum Gemüsegarten, in dessen Mitte sich ein Brunnen mit einer Winde

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