Maigrets Nacht an der Kreuzung
sie mit einem schwachen Lächeln. »Er hat so zug e drückt.«
Ihre eine Wange war schwarz vor Erde, in ihrem zerzausten Haar hing der Schmutz. Und Maigret selbst bot kaum einen besseren Anblick!
»Was haben Sie in dem Brunnen gemacht?« fragte er.
Sie sah ihn scharf an. Ihr Lächeln verschwand. Man spürte, daß sie mit einem Schlag ihre Kaltblütigkeit z u rückgewonnen hatte.
»Antworten Sie!«
»Ich … Ich bin mit Gewalt hineingeschleppt worden.«
»Von Michonnet?«
»Das ist nicht wahr!« brüllte dieser.
»Es ist wahr! Er wollte mich erwürgen! Ich glaube, er ist verrückt.«
»Sie lügt! Sie ist es, die verrückt ist! Oder vielmehr, sie hat …«
»Hat was?«
»Ich weiß nicht! Sie … Sie ist eine Giftschlange, deren Kopf man an einem Stein zerschmettern muß!«
Inzwischen war es Tag geworden. In allen Bäumen zwitscherten Vögel.
»Warum haben Sie den Revolver mitgenommen?«
»Weil ich eine Falle fürchtete.«
»Was für eine Falle? Einen Augenblick … Gehen wir der Reihe nach! Sie haben soeben erzählt, Sie seien überfallen und in den Brunnen geschleppt worden.«
»Sie lügt!« schrie der Versicherungsvertreter erneut.
»Nun zeigen Sie mir mal«, fuhr Maigret fort, »wo di e ser Überfall stattgefunden hat.«
Sie blickte sich um und deutete auf die Terrasse.
»Dort? Und Sie haben nicht geschrien?«
»Ich konnte nicht.«
»Und dieses schmächtige Männlein hatte die Kraft, Sie bis zum Brunnen zu tragen, das heißt, eine Last von fünfundfünfzig Kilo zweihundert Meter weit zu schle p pen?«
»So ist es.«
»Sie lügt!«
»Er soll endlich den Mund halten«, sagte sie müde. »Sehen Sie nicht, daß er verrückt ist? Und das nicht erst seit heute!«
Man mußte Michonnet bändigen, der sich erneut auf sie stürzen wollte.
Die kleine Gruppe in dem Garten bestand aus Maigret, Lucas und zwei Polizisten, die den Versicherungsvertreter mit seinem zerschundenen Gesicht und Else beobachteten, die, während sie redete, Ordnung in ihr Äußeres zu bringen versuchte.
Es war schwer zu deuten, warum es niemandem gelang, die ganze Sache als tragisch oder wenigstens als dramatisch anzusehen. Es sah einfach mehr nach einer Posse aus.
Ohne Zweifel lag das zum Teil an diesem diffusen Morgenlicht. Und auch die Müdigkeit und der Hunger aller Beteiligten werden wohl dazu beigetragen haben.
Diese Stimmung steigerte sich noch, als man eine Frau zögernd die Straße entlangkommen sah, die dann den Kopf über das Gitter des Tores streckte, dieses schließlich öffnete und beim Anblick Michonnets rief:
»Emile!«
Es war Madame Michonnet, mehr entsetzt denn überrascht, die ein Taschentuch aus ihrer Tasche zog und in Tränen aufging.
»Schon wieder diese Frau!«
Sie wirkte wie eine behäbige alte Mutter, die sich, von den Ereignissen hin- und hergerissen, in ihrer Verbitt e rung lindernden Tränen hingibt.
Maigret stellte amüsiert fest, wie klar Elses Gesichtsausdruck wieder wurde, wie sie einen nach dem anderen in der Runde musterte. Ein hübsches, sehr fe i nes, sehr aufmerksames und plötzlich spitzes Gesicht.
»Was wollten Sie in dem Brunnen?« fragte er in gutm ü tigem Ton, als ob er sagen wollte: ›Schluß jetzt, ja? Wir beide brauchen uns keine Komödie mehr vorzuspielen.‹
Sie verstand. Ihre Lippen verzogen sich zu einem ironischen Lächeln.
»Ich glaube, wir sitzen wie die Ratten in der Falle«, gab sie zu. »Aber ich habe Hunger, ich habe Durst, ich friere, und ich möchte mich trotz allem ein wenig z u rechtmachen. Danach werden wir weitersehen …«
Sie spielte keine Komödie mehr, im Gegenteil, sie sagte es mit bewundernswerter Sachlichkeit.
Sie stand ganz allein inmitten der Gruppe und ließ sich nicht verwirren, blickte belustigt auf die weinende Madame Michonnet und deren erbärmlichen Mann, wandte sich dann Maigret zu, wobei ihr Blick sagte: ›Die Armen! Wir beide, wir sind vom selben Schlag, nicht wahr? Wir reden nachher miteinander. Sie haben gewonnen! Aber geben Sie zu, daß ich meinen Part gut g e spielt habe!‹
Keine Furcht. Auch keine Verlegenheit. Keine Spur von falschem Spiel.
Es war die wahre Else, die endlich zum Vorschein kam und die diese Enthüllung selber genoß.
»Kommen Sie mit mir«, sagte Maigret. »Lucas, du kümmerst dich um den anderen. Die Frau kann nach Hause gehen oder dableiben.«
»Treten Sie ein! Sie stören mich nicht!«
Es war dasselbe Zimmer im ersten Stock, mit dem schwarzen Diwan, dem intensiven Parfumgeruch, dem Versteck hinter dem
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